Schon vor ein paar wochen habe ich mich mal ausgiebig über eine neue innovation der Süddeutschen geärgert (siehe die sueddeutsche als e-paper - hurrah?) Jetzt mußte ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass auch Handelsblatt und Wirtschaftswoche sowie ein rundes dutzend weiterer titel ihren Lesern "ePaper" anbieten. Ein geradezu lehrbuchhaftes beispiel wie unternehmen mit einer neuen technologie umgehen, die sie nicht verstehen: "Das ist doch eigentliche genau wie [setze etwas altbekanntes ein] nur mit [setze einen eher unwichtigen aspekt der neuen technologie ein]!"
Das ganze erinnert (muss zugeben, ich war nicht dabei, habe nur anekdoten gelesen) an die geschichten aus den anfangsjahren des fernsehens. Abendunterhaltung war relativ einfach: einfach zwei kameras in einem theater aufstellen und abfilmen, was auf der bühne stattfindet. Es hat jahre gedauert, bis die macher und zuschauer das neue medium verinnerlichten und medienadäquate ausdrucksformen fanden.
Bei den tageszeitungen scheint es ähnlich zu sein. Zitat aus der Pressemitteilung zum launch der ePaper version des Handelsblatt:
„Wir wollten das Zeitunglesen auf das Internet übertragen, denn auch die Aufmachung eines Artikels ist Teil der Information“, sagt ePaper-Pionier Joachim Türck, Geschäftsführer der Rhein-Zeitung Online GmbH.
Hurrah! Also bekommt man die Zeitung
- in ameisenschrift
- aber im so wichtigen original-layout (mehr als A3!) im browser präsentiert,
- kann mit der maus über die artikel fahren (bekommt beim rollover hints auf die inhalte in den textblöcken darunter)
- kann den volltext dann auf mausklick in einem separaten popup fenster lesen.
Zitat aus der selben Pressemitteilung:
Bisher sind die Nutzerzahlen der elektronischen Zeitungen in Deutschland denn auch bescheiden. Bei der „Rhein-Zeitung“ (Auflage: 226 279) nutzen nur etwa 2660 Abonnenten auch die elektronische Ausgabe. Bei anderen Zeitungen ist die Zahl oft sogar nur dreistellig. Selbst mittelfristig geht der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) nur von einem Anteil der elektronischen Auflagen an den Gesamtauflagen von zwei bis drei Prozent aus.
Und was werden die verleger daraus schließen? Vermutlich: "Die leute wollen ihre zeitung nicht online! Wir haben es doch probiert..." Doch, wir wollen, aber nicht so!
Was erfolg haben würde (nein "wird", irgendeiner wird es machen, vermutlich nur nicht die der "Aufmachung eines Artikels" verprlichteten verleger) ist eine medienadäquate form der tages- oder wochenzeitung. Ist nicht wirklich schwierig und ohne großen aufwand umzusetzen (siehe ein konzept für online-zeitungen mit mehrwert). Hätte ich doch nur ein paar kontakte in die verlagswelt. Vielleicht könnte man daraus eine geschäftsidee machen ...
andere kleine anekdote zum thema "frühformen der mediennutzung" - das Telefon wurde in den ersten Jahren in Großstädten als eine Art Radio verwendet: Zu bestimmten Zeiten wurden z.B. in Budapest Opern per Telefon übertragen.. Erst mit wachsender Teilnehmerzahl hat sich die heute selbstverständliche Nutzung als Medium interpersonaler Kommunikation (statt als eine Art Massenmedium) herausgebildet..
Interessant, auch im Zusammenhang mit Deinem anderen Post zur "Wunschzeitung": Als die ersten Lokalzeitungen online gingen, zweite Hälfte der 90er, wäre eine Entwicklung hin zu interaktiven regionalen Informationsportalen möglich gewesen (Artikel + Kommentar-/Diskussionsforen für Leser) - die Nutzungsweisen waren noch nicht so festgeschrieben, dass zumindest Potenzial für Experimente bestand. Letztlich kam es dann aber doch zu der relativ uninspirierten Übertragung bestehender "Zeitungsroutinen" aufs Netz...
gruesse, jan
Posted by: Jan | Saturday, 17 April 2004 at 12:13
Danke für die ergänzenden Anekdoten. Wirklich niedlich. Ja, ich glaube, das ist ein klassiches Schema, wie Menschen mit Innovationen umgehen (und letztendlich ein sinnvoller Schutzmechanismus), einfach zu sagen, dass Neue ist doch irgendwie gleich dem Alten. Erspart Mühen und Sorgen ... Sich von alten Paradigmen zu verabschieden, ist mühselig.
Zur Theorie des "Window of Opportunity" für Onlinezeitungen Anfang der 90er: Nein, sehe ich nicht so! Ich glaube tatsächlich, dass durch die Technologie der RSS-Feeds eine neue Variante ins Spiel gekommen ist, die dem Journalismus (aus Redaktionen nicht von Bloggern) neue Chancen eröffnet. Dass die damaligen uninspirierten Experimente erfolglos waren (es gab auch inspirierte, innovative. Die haben sich nur vorne und hinten nicht gerechnet!) tut nichts zur Sache. Neues Spiel (neue Technologie) neues Glück!
Ich glaube, dass es erfolgreiche Projekte, die das von mir skizzierte Prinzip realisieren, geben wird. Einzelne Bausteine gibt es schon. Einzige Frage ist, wer als erster etwas Rundes/Ganzes aus diesen Bausteinen macht? ... Und das Geld hat, um das in hinreichend grossem Maßstab zu machen, dass es auch einen Impact hat. Mir kribbelt es in den Fingern, da mitzumachen. Aber ins Verlagswesen fehlen mir echt die Connections.
Posted by: markus | Saturday, 17 April 2004 at 21:48
Yup, ich wollte auch nicht sagen, dass Interaktivität im Online-Journalismus ein für alle mal tot ist, nachdem es sich in den 90ern nicht durchgesetzt hat. Ich meine vielmehr, dass inzwischen die meisten Nutzer mit "Online-Tageszeitungen" eine eher massenmediale Kommunikationsform verbinden, die sie auf spezifische Weise in ihre Nutzungsroutinen einbinden, mit der sie bestimmte Erwartungen verbinden. Soziologisch gesagt: Online-TZ sind institutionalisiert, weil sich bestimmte Verwendungsweisen und Routinen verfestigt haben, und Interaktivität gehört nicht zentral dazu.
Was sich im Moment in Sachen Blogs oder RSS tut, ist im Vergleich dazu noch "verwendungsoffener", und die weitere Entwicklung wird sicher spannend (was schön für mich ist, denn dann habe ich als Wissenschaftler was zu forschen..) Insofern sag mir Bescheid, wenn Du Verbindungen in die Verlagsbranche auftust... :-)
Posted by: Jan | Sunday, 18 April 2004 at 15:39