Wann immer das Gespräch auf Googles neuen E-Mail-Service Gmail (immer noch im Betastatus) kommt, steht normalerweise das Thema "Boah, eyh! 1 Gigabyte kostenloser Speicherplatz“" im Vordergrund. Ein Kollege verstieg sich kürzlich sogar zu der Behauptung, dass Gmail nun, da auch andere Anbieter 1Gbyte Speicherplatz kostenlos anbieten, „alt“ aussähe. Im Gegentum: GMail sieht jünger (weil neu und anders als die altbewährten Wettbewerber) aus.
Zwar betreibt Google manchmal wirklich geniale PR (siehe u.a. GMail - Virales Marketing "at its best"). Da passt es hinein Öffentlichkeit und Wettbewerber mit dem Stichwort "1 Gbyte" aufzumischen. Das liest sich plakativ, braucht nicht viel Erklärungen (wie halt „PS“ beim Auto) und eignet sich ideal für die Kommunikation mit "dem Volk" und Journalisten, denen es lästig ist, hinter Stories lange hinterher zu recherchieren.
Jeder, der sich wirklich etwas näher mit Gmail beschäftigt, wird aber feststellen, dass dieses Email-Programm „irgendwie anders“ ist. Gmail macht Dinge, mit denen wir seit Jahren bei unserer altbewährten E-Mail-Software arbeiten, deutlich anders. Anders, als alle anderen vergleichbaren Programme! Und in diesem Anderssein besteht die wirklich wichtige Innovation!
Gmail ist so innovativ – und so gut, dass einige seiner Features über kurz oder lang auch in andere E-Mail-Software Eingang finden werden.
Im Detail ...
In den Diskussionen, die sich an die Beiträge mit dem Thema „Gmail, was soll der ganze Hype“ anschliessen, gibt es selbstverständlich auch immer wieder Beiträge, die in diese Kerbe schlagen und auf andere Aspekte von Gmail hinweisen, die weit wichtiger sind als der Speicherplatz und die integrierte Volltextsuche. Meist gehen diese Argumente aber in den Kommentaren unter. Diese anderen Features sind nämlich nicht leicht zu beschreiben.
Als ich mich daran machen wollte, das „Andersein“ von Gmail zu beschreiben, merkte ich nach ein bisschen herumgooglen schnell, dass ich mir das sparen kann. Das hat Dan Brown (nein, nicht der Dan Brown, sondern ein sehr guter Informationsarchitekt) nämlich schon sehr gut gemacht: The Information Architecture of Email bei Boxes and Arrows.
Er nennt die folgenden Aspekte:
- Fokus auf Diskussionsfäden (Threads; Folgen von Mails und den Antworten darauf) statt auf einzelne E-Mails
- Archivieren statt Löschen
- Label statt Ordner
- Spam-Filtering
Details zu den einzelnen Features finden sich, wie gesagt, hier. Ich will nur die wichtigsten Stichpunkte zusammenfassen. (Am besten ist aber immer noch: sich einen Account organisieren und rumprobieren. Wer Datenschutzsorgen hat, muss dazu ja nicht seine vertraulichen Mails verwenden. Gmail ist auch dann interessant, wenn man aus Datenschutzgründen heraus nicht plant, jemals intensiv damit zu arbeiten.)
Fokus auf Diskussionsfäden
In allen listenartigen Darstellungen von E-Mails zeigt Gmail immer Diskussionsfäden (die am Anfang natürlich auch aus einer einzelnen Mail bestehen können): empfangene und abgesandte Mails zusammen. In der entsprechenden Headline wird durch einen Zähler angezeigt, wie viel Einzelnachrichten darin enthalten sind und wer die letzten drei Autoren waren. Ein Klick auf die Headline klappt die einzelnen Beiträge darunter aus und zeigt den neuesten ungelesenen. Die Inbox zeigt stets alle aktiven Threads. Trifft in einem eine neue Nachricht ein, wird die entsprechende Headline fett.
Das liest sich nicht so fürchterlich anders als das Handling von Mail-Listen in Outlook oder anderen E-Mail-Clients ist aber wirklich „praktisch“. Es ist eine sehr kompakte Darstellung bei einer gut gefüllten Inbox (besser als „Ordner“), das Sichten, Durchblättern, Lesen, Antworten geht sehr intuitiv vonstatten. Und es kommt dem „mentalen Modell“ der Kommunikation per E-Mail – Dialog und nicht zusammenhanglose Folge von Mails – viel näher als die gewohnte Darstellung!
Archivieren statt Löschen
Man kann auch mit Gmail alte E-Mails löschen. Gedacht ist das Programm dafür aber nicht. Man archiviert sie stattdessen (am besten komplette Threads), wodurch sie aus der Inbox ins Archiv wandern. Mehr nicht. Man steht also nicht ständig vor der – immer harten – Entscheidung: Soll ich löschen oder kann ich sie noch mal gebrauchen?
Wenn zu einem Diskussionsfaden, der schon im Archiv liegt, doch noch wieder eine neue Mail eingeht, wandert dieser übrigens automatisch zurück in die Inbox.
Ich denke zwar nicht, dass es mit diesem Prinzip für mich möglich wäre, sehr lange mit Gmail zu arbeiten. Wenn ich alle Mails archiviere, hätte ich 1 Gbyte nach einem viertel Jahr voll. Das Prinzip ist trotzdem sehr reizvoll und ich denke, dass Google über kurz oder lang auch größere Accounts anbieten wird. Für viele User wird 1 Gbyte Archiv aber eine ganze Weile reichen.
Label statt Ordner
Anders als fast alle Email-Programme, mit denen ich bislang gearbeitet habe, kennt Gmail keine "Ordner". Emails werden zu Threads gruppiert, und wenn sie nicht mehr in der Inbox liegen, kommen sie ins Archiv. Basta. Klingt eher, wie eine Schwäche. Ist es aber nicht. Tatsächlich funktionieren Ordner-Hierarchien bei den wenigsten Menschen, die ich kenne, wirklich gut. Sie gehen davon aus, dass jedes Informationshäppchen an genau eine Stelle in einer logischen Struktur gehört. Mag bei Bibliothekaren und Archivaren funktionieren, bei mir nicht.
Gmail kann jede Email mit einem oder mehreren Labels (frei definierbaren Etiketten) versehen. Und ich kann mir später alle Mails im Archiv, die dasselbe Label tragen, auflisten lassen als lägen sie zusammen in einem Ordner Klingt nach einem spitzfindigen Unterschied zu den klassischen Ordnern, ist tatsächlich aber ein Riesen-Vorteil. Ist nämlich viel natürlicher, eine Mail mit mehreren Etiketten zu versehen (was selbstverständlich auch automatisiert werden kann), als sie in genau einen Ordner in einer durchdachten Hierarchie abzulegen.
Und schließlich und endlich steht zum Wiederauffinden im Archiv natürlich auch die erstklassige Google-Suchfunktion zur Verfügung.
Fazit
Das waren nur die wichtigsten Aspekte, die Gmail anders macht. Hinzu kommen viele kleine Details, die oft auch sehr pfiffig gemacht sind (und zwei, drei m.E. eher unhandliche Ideen).. Gmail bringt ein paar wirklich neue Aspekte in die Welt der E-Mail, oder kombiniert sie zumindest auf neuartige Weise. Und es ist das erste webbasierten Mail-Programme, bei dem ich ernsthaft drüber nachdenke, es intensiv - und nicht nur als Notnagel - zu nutzen.
Als versierter E-Mail-Anwender muss man an der einen oder anderen Stelle umdenken, Aber das lohnt sich. Ich denke, dass einige seine Features bzw. Denkweisen über kurz oder lang auch bei anderen Programmen dieser Kategorie zu finden sein werden. Gut, dass es mal jemand gewagt hat, das Thema Email frisch und unbefangen anzugehen.
Die Problematik mit den Werbeeinblendungen und die Unsicherheit, was Google wirklich mit den über meine Korrespondenz gewonnen Daten machen wird, bleiben allerdings.
ich gehe davon aus, dass auch auf betriebssystem-ebene das prinzip "search & label" die ordnerstrukturen verdrängen werden, nicht für systemdateien, sondern für dokumente, musik, videos, fotos, etc. - wobei einige labels ganz automatisch assigned werden (datenquellen: bearbeitungsdauer- und häufigkeit, herkunft zb per email, autor, meta-daten wie EXIF, etc.).
let the bloody folders die, ich kann's kaum erwarten.
Posted by: helge | Thursday, 26 August 2004 at 20:54
btw.. ist zwar etwas off-topic.. aber ich denke zum generellen google-analysis
http://www.kottke.org/04/08/the-google-browser
Das eine möglichkeit für den neuen service-aggregator der google crew?
hmm.. jetzt mal eine doofe frage..
ein browser als web service?...
also super thin client...
Posted by: Juergen Bayer | Friday, 27 August 2004 at 09:23
@Jürgen: ich glaube nicht, dass Kottke einen Browser als Webservice meint. Und ich bin mir überhaupt nicht sicher, dass es für Google von Interesse wäre, einen eigenen Browser zu entwickeln - wie Anil Dash ursprünglich mal vorgeschlagen hat.
Was stimmt, ist das Google eine esssentielles (überlebenswichtiges) Interesse an leistungsstarken auf möglichst vielen Plattformen kompatiblen Browsern hat. Diese Entwicklung zu fördern und/oder mehr sinnvolle - mit ihren Diensten verknüpfende - Extensions für Firefox zu entwickeln ... Ja, das würde absolut Sinn für Google machen, denn das ist die Plattform, auf der das Geschäfts der Firma läuft. Wundert mich, dass die scheinbar noch nicht im WHAT-WG-Konsortium (http://www.whatwg.org/) sind. Siehe auch "Der Browser-Krieg ist wieder da" (http://notizen.typepad.com/aus_der_provinz/2004/07/der_browserkrie.html)
Posted by: Markus Breuer | Friday, 27 August 2004 at 10:32
"Fokus auf Diskussionsfäden (Threads; Folgen von Mails und den Antworten darauf) statt auf einzelne E-Mails
Archivieren statt Löschen
Label statt Ordner
Spam-Filtering"
Was ist daran neu? Insbesondere Opera unterstützt sogar Labels.
Posted by: Manfred | Friday, 01 October 2004 at 13:51
""Fokus auf Diskussionsfäden (Threads; Folgen von Mails und den Antworten darauf) statt auf einzelne E-Mails
Archivieren statt Löschen
Label statt Ordner
Spam-Filtering""
"Was ist daran neu? Insbesondere Opera unterstützt sogar Labels."
Ist wirklich nix neues, "The Bat" kann das ebenfalls!
Posted by: Christoph | Wednesday, 27 October 2004 at 21:47
Ja, nicht *wirklich* neu.
Aber wie das so ist mit Innovationen. Nicht immer gewinnt der, der die initiale Idee hatte - sondern der, der sie am besten verpackt und verkauft...
Posted by: Thomas Schulze | Thursday, 28 October 2004 at 22:13
"[...]Wenn ich alle Mails archiviere, hätte ich 1 Gbyte nach einem viertel Jahr voll. [...] Für viele User wird 1 Gbyte Archiv aber eine ganze Weile reichen."
Angeber!
Eines der Grundprinzipien der Ordung ist: Lösche, was Du nicht brauchst. (Sonst sammelst Du am Ende noch Spam-Mails. Dann werden schnell auch mal 2 GB voll)
Posted by: Nick | Wednesday, 24 November 2004 at 01:11
interessanter artikel, den ich gerne ergänzend kommentieren möchte.
google verfolgt hier das klassische "ökonomische prinzip":
-minimalprinzip (künstliche marktverknappung um beim potentiellen konsumenten bedarf nach einem (neuen?) produkt zu wecken)
-maximalprinzip (anpassung der quantitativen verfügbarkeit)
-zusammenführung beider grundprinzipien zum ökonomischen prinzip (minimaler aufwand - maximaler nutzen),
was letztendlich nur die schlussfolgerung zulässt, dass sich google mit gmail komerziellen nutzen durch stärkung der eigenen marke (corporate identity) und werbekunden erhofft.
natürlich ist es legitim seine aktivitäten im sinne der eigenen interessen auszurichten (tun wir ja schliesslich alle).
die grundsätzliche frage ist nur, ob googles interessen auch unsere sind, wobei ich mich hier auf den anarchistischen ansatz des internets beziehe, nachdem es den anhängern dieses gedankens gelungen ist das netz auch nichtmilitärs zugänglich zu machen, oder ob in zeiten von firefox, linux und anderen open-source projekten nicht auch ein nichtkommerzieller dezentraler maildienst geschaffen werden sollte.
ich habe nichts gegen gmail und andere innovative entwicklungen, bitte aber darum die kommerzialisierung von linux und die verknüpfung :-) von mozilla bzw. firefox und google nicht ausser acht zu lassen.
natürlich ist mir klar, dass die realisierung von innovationen geld kostet. nur, sollten wir deshalb die sich langsam entwickelnde "entmicrosoftisierung" in eine "googlelisierung" eintauschen?
monopol ist und bleibt nun mal monopol; egal wessen...
Posted by: ulf | Monday, 02 May 2005 at 19:54