Die ständig weiterschreitende technologische Entwicklung (die sich sogar zusehens weiter beschleunigt), ist etwas, an das wenige denken. Und selbst für die, denen dies bewußt ist, ist das meist ein rein intellektuelles Verstehen. Es fällt jedem von uns schwer, die Konsequenzen einer sich exponentiell beschleunigenden Entwicklung gefühlsmäßig nachzuvollziehen und in unsere Entscheidungen einzubeziehen.
Das ist auch kein großes Wunder. In der Vergangenheit verlief diese Entwicklung so, dass sich dramatische Änderungen eigentlich nur von einer Generation zur nächsten ergaben. Innerhalb seines eigenen Lebens konnte ein Mensch stets davon ausgehen, das im Großen und Ganzen "alles beim Alten blieb". Das ist nun nicht mehr der Fall. Die aktuelle Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung ist an einem Punkt angekommen, wo die nächsten 20 Jahre genau so viel Veränderung, genau so viel Neues bringen werden, wie das gesamte 20. Jahrhundert . Und das ist schwer zu verstehen - weil es das Fassungsvermögen buchstäblich übersteigt. Hoffentlich nicht auch unsere Anpassungsfähigkeit.
Mehr Aspekte dazu gefällig? ...
Steve Jurvetson, (hat mal Hotmail und Interwoven finanziert und ist aktuell einer der experimentierfreudigsten Investoren im Silicon Valley), hat zur Illustration dieses Tempos einfach mal ein paar Statistiken ausgegegraben, um beispielhaft aufzuzeigen, was die letzten 100 Jahre an technologischer Entwicklung denn so gebracht haben:
In 1900, in the U.S., there were only 144 miles of paved road, and most Americans (94%+) were born at home, without a telephone, and never graduated high school. Most (86%+) did not have a bathtub at home or reliable access to electricity.
Das war in Deutschland nicht so viel anders. Man könnte hinzufügen: kein Autoverkehr, kein Fernsehen, kein Radio, keine Tageszeitung (für die meisten Menschen), keine Staubsauger, keine Waschmaschinen, keine "Pille", keine Zentralheizung, etc. etc. Vieles, ohne das wir uns das Leben nicht vorstellen können (nein, wir KÖNNEN das nicht), gab es nicht. Wer nun denkt, "Na und, ich könnte gut, ohne das alles auskommen." hat vielleicht recht. Aber das war nicht "nur Technologie", es hat die menschliche Gesellschaft, die Arbeitswelt, unseren Umgang miteinander, auch zwischen den Geschlechtern, und auch unsere Weltanschauung dramatisch verändert.
Ich bin sehr gespannt, ob und wie unsere Gesellschaft in der Lage sein wird, eine vergleichbare Menge an Änderungen in den nächsten 20 Jahren danach zu verdauen - und noch einmal die selbe Menge in den 5 Jahren danach und dann ...? Wer versucht, darüber nachzudenken, dem wird vielleicht klarer, was der Begriff "technologische Singularität" (siehe Venor Vinges Singularity-Konzept - knapp erklärt ) tatsächlich bedeuten könnte.
Es ist natürlich einfacher, da nicht drüber nachzudenken, das alles in die Kategorie "Science Fiction" und irrelevante Spekulation einzuordnen. Ist auch vielleicht besser so, weil es einen ruhiger schlafen lässt. Man muss da nicht dran glauben. Tatsächlich hat sich der technologische Fortschritt (?) in den letzten paar hundert Jahren aber wirklich in einer solchen Kurve entwickelt und beschleunigt (von wenigen großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Katastrophen abgesehen). Und im Moment ist nichts zu sehen, was zu einer Bremsung beitragen könnte.
Auch in den Kommentaren zu Jurvetsons Artikel fanden sich natürlich die "normal denkenden" Menschen wieder, die zu bedenken gaben, dass das alles "nicht geht", da es Zeit brauche Infrastrukturen aufzubauen, etc. Klare Symptome dafür, dass selbst Menschen im technologischen Umfeld, sich das tatsächlich nicht vorstellen KÖNNEN. Exponentielle Entwicklungen können wir beschreiben, auf dem Papier aufmalen aber emotional nicht VERSTEHEN. Aber sie sind da. Jede davon hat in der wirklichen Welt abseits der Mathematik tatsächlich auch ein Ende. Dieses Ende ist üblicherweise aber auch recht dramatisch und für viele Beteiligte recht unerfreulich.
Und die nächsten 20 Jahre werden die meisten unter uns noch "Live und in Farbe" miterleben. Die Auseinandersetzung damit ist deshalb nichts, was wir unseren Kindern überlassen können. Und nein, das ist auch nichts, worüber wir demokratisch abstimmen und entscheiden können "Nö, das wollen wir lieber doch nicht! Lass mal alles so, wie es jetzt ist."
Zwar entscheiden wir in dieser Hinsicht relativ viel - zum Beispiel über die Akzeptanz und Geschwindigkeit einer neuen Entwicklung, indem wir sie kaufen/anwenden. Wir entscheiden uns aber in sehr kleinen Häppchen. Und die Konsequenzen werden uns typischerweise so viel später bewußt, das diese in die Entscheidung nicht eingehen. Hat sich jemand, der sich in den 60ern eine Auto angeschafft hat, dafür entschieden, deutschlandweit Arbeiten, Wohnen und Einkaufen voneinander zu trennen? Wahrscheinlich nicht. "Es ist passiert". Und mehr davon passiert heute. Die Auswirkungen werden wir in wenigen Jahren -. weit abseits von Themenfeldern wie "Technologie" - in unserem Leben wahrnehmen.
Was klar ist, ist, dass eine Gesellschaft, die immer noch auf Beharrung ausgelegt ist und Wandel in erster Linie als Katastrophe ansieht, gegen die man Notpakete beschließen muss, diese Veränderungen nicht mit offenen Armen begrüßt. Das ist dem Wandel aber eher egal. Der geht einfach weiter. Immer schneller! Unter anderem getrieben von den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen, die ihn ablehnen. Ich denke, dass die aktuellen Proteste in Sachen Hartz IV deshalb erst ein müdes Lüftchen im Vergleich mit den Stürmen ist, die uns noch bevorstehen.
Mir wäre es lieber Moral&Ehtik entwickelt sich, anstatt der ganze Technik(Elektro)kram.
Posted by: Hans | Tuesday, 05 October 2004 at 09:58
Da gibt es nur ein Problem: "Die Technik" entwickelt sich aufgrund einzelner findiger Geister und - mit Glück - visionär( beeinflussbar)er Geldgeber. "Moral und Ethik" aber muss jeder für sich selbst entwickeln. Mit Hilfe der Eltern, der Schule und der Freunde. Und wenn immer mehr Menschen - und vor allem Kindererziehende! - weniger Einkommen haben und sich die Einkommensverhältnisse weiter auseinander dividieren, dann wird das nicht gerade positive Auswirkungen auf Moral und Ethik haben.
Posted by: Manfred | Tuesday, 05 October 2004 at 12:46
@Hans: Mir wär' das auch lieber!
Schert sich nur keiner drum, was mir lieber ist.
Vielleicht ist das bei deinen Wünschen anders...
Ich befürchte aber, das wird nicht so sein.
@Manfred: Ich sehe den Zusammenhang bzw. die logische Abfolge zwischen "weniger Einkommen/mehr Ungleichheit und negativen Auswirkungen auf Moral/Ethik" nicht. Materielle Ungleichheit mag unter einem bestimmten moralischen Wertesystem als "unmoralischer" angesehen werden als eine gleichmäßigere Verteilung materiellen Wohlstands. Aber wieso wird dadurch Moral & Ethik als Prämisse des Handelns der Beteiligten vermindert (auf welcher Meßlatte auch immer)?
Posted by: Markus Breuer | Tuesday, 05 October 2004 at 13:27
Interessanter Beitrag! Wichtig finde ich den Hinweis, dass der Fortschritt natürwüchsig verläuft und unserer demokratischen Mitbstimmung entzogen ist. Es ist nämlich modisch geworden, die de-facto-darwinistische Evolution der Gesellschaft zu legitimieren und in den Mechanismen, die nach dem Vorbild der Biologie wirken, eine letzte unhinterfragbare Autorität zu sehen.
Posted by: Wolfgang Sommergut | Tuesday, 05 October 2004 at 13:37
Tscha, meines Erachtens findet eine eine Entwicklung der Gesellschaft statt, die durch Mechanismen gesteuert wird, die denen der biologischen Evolution nicht ganz unähnlich sind. Wir alle wirken daran auf urdemokratische Weise in vielen unscheinbaren Entscheidungen des Alltags mit. Ob das "legitim" ist oder hinter dem eine unhinterfragbare Autorität liegt, vermag ich nicht zu entscheiden.
Ich befürchte allerdings, dass ein Anstemmen gegen die Mechanismen dieser Prozesse sehr schwer ist, weil - wie schon erwähnt - der Zusammenhang zwischen (mit angenehmen Begleitumständen verbundener) Ursache und (ggf. mit unangenehmen Folgen verknüpfter) Wirkung sehr schwer zu belegen ist - manchmal erst Jahre später erkennbar wird.
Strategien, die diese Mechanismen ignorieren und zum Beispiel auf die altruistische Einsichtsfähigkeit oder langfristigen Genussaufschub der lieben Mitmenchen bauen, haben deshalb meiner Meinung nach keine große Erfolgsaussichten. Erfolgversprechender erscheint es mir, diese Prinzipien zu akzeptieren, und sie dort zu fördern/zu nutzen, wo ihre Bewegungsrichtung nachhaltig positiv erscheint (wer "weiß" schon, wie die Sache ausgeht).
Wenn ich mich mit dieser Ansicht als "modisch" oute, werde ich wohl damit leben müssen. Seufz.
Posted by: Markus Breuer | Tuesday, 05 October 2004 at 13:54
@Markus: Inwieweit materielle Ungleichheit als unmoralischer als eine gleichmäßigere Verteilung materiellen Wohlstands angesehen werden kann, soll im Rahmen dieses Beitrags kein Thema sein. Aber dass sich weniger Einkommen und erst recht größere Ungleichheit negativ auf persönliche Moralvorstellungen auswirken, sollte offensichtlich sein. Sicher nicht in absoluten Maßstäben (von denen Du, dachte ich, sowieso nichts hältst), aber tendenziell auf jeden Fall. Wir sind nun einmal keine Mütter Theresas und Ghandis. Unrechtsbewusstsein und Skrupel nehmen ab, wenn die Armut/Ungleichheit voranschreiten.
Posted by: Manfred | Tuesday, 05 October 2004 at 20:04
Eine Logik (oder rationale Begründung) sehe ich immer noch nicht für jemanden, dessen Unrechtsbewußtsein bei einer Handlung, die er selbst in anderen Einkommensverhältnissen als Unrecht ansehen würde, unterentwickelt ist. Aber das ist Beckmesserei. Auf der emotionalen Ebene - und die zählt - hast Du Recht! Da jeder (na ja fast jeder) für sich das Meiste herausholen will, wird er dazu neigen, auch rechtswidriges und egoistisches Handeln vor sich und anderen schön zu reden und zu denken.
Posted by: Markus Breuer | Tuesday, 05 October 2004 at 20:17
Yep - und das Editorial vom aktuellen c't-Magazin spricht genau das an! Und zwar sehr gut!!! Es geht um die Tauschbörsianer, die auch dann fleißig weitertauschen, wenn die Musik-Industrie ihnen mit verbilligtn CDs (z.B. ohne Booklet) entgegen zu kommen versucht.
Posted by: Manfred | Tuesday, 05 October 2004 at 21:36