Ich bin ja in der letzten Zeit nicht nur bloggend als Evangelist für virtuelle Welten (oft Second Life) unterwegs sondern halte auch den einen oder anderen Vortrag dazu und werde in Folge in Diskussionen, F&A-Sessions etc. dazu verwickelt. Was mich dabei immer wieder auf's Neue fasziniert ist die extreme Bandbreite der Reaktionen. Stirnrunzeln ist grundsätzlich weit verbreitet. Aber dann gehen die ersten Reaktionen von
Baaaah. Miese Grafik. Das sieht in HalfLife oder [setze beliebiges anderes Konsolen-Ballerspiel ein] aber viel realistischer aus.
bis hin zu
Also, wenn ich das richtig verstehe, kann doch hier jeder machen, was er will. Wieso sehen dann alle Leute aus wie Johny und Mary, leben in Villen am Meer und gehen abends in die Disko?
Zugegeben, das sind zwei unterschiedliche Aspekte - "technischer" Realitätsgrad der Grafik der eine und Phantasie bei der Ausgestaltung der virtuellen Welt und des virtuellen Lebens der andere - beide haben aber mit der Relation zwischen physischer und virtueller Welt zu tun und mit der Frage, wieviel "Realität im virtuellen" erstrebenswert bzw. notwendig oder gar akzeptabel ist. Anders gefragt: wird die virtuelle Welt auf Dauer ein (von der Intention her) exaktes Abbild der physischen Realität werden? (Siehe die ultrarealistischen Shopping-Mall links.) Muss sie es werden? Muss sie noch realistischer werden, als sie heute ist, um auf mehr Akzeptanz zu stossen? Oder ist das langfristig ein Abtörner? Realismus haben wir ja schon reichlich in der physischen Welt. Warum der Phantasie nicht freien Lauf lassen (Siehe den schwebenden Swimming Pool rechts.)
Aber mal im Detail
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Die aktuelle Grafik-Qualität ist ausreichend
Was Second Life oder There in dieser Hinsicht zu bieten haben, liegt zwar weit hinter dem zurück, was aktuell Standard bei High-End-Ballerspielen ist. Rechts ein Screenshot aus HalfLife2. Ich würde einmal sagen, dass das sicherlich 2 - 4 Jahre weiter in der Entwicklung ist, als das, was aktuell bei Second Life zu sehen ist. Und There liegt noch einmal 2 - 3 Jahre dahinter.
Für das Gefühl, in eine 3D-Welt einzutauchen, reicht diese Qualität aber aus (Vermutlich wäre sogar eine geringere Qualität ausreichend. Das menschliche Unterbewußtsein arbeitet in dieser Hinsicht recht interessant.) Auch für realistische Produktdarstellungen - sowohl als 3-Modell als auch in 2D-Abbildungen ist die Qualität akzeptabel. Der Adidas-Schuh, den die Firma seit kurzem innerhalb von Second Life vertreibt, kommt wirklich sehr naturgetreu herüber.
Was nicht heißt, das eine bessere Grafikqualität nicht wünschenswert oder angenehm wäre. Und die wird über kurz oder lang sicherlich auch am Markt erscheinen. Rechenleistung (auf Server-, wie auf Anwenderseite), Speicherausstattung der am weitesten verbreiteten Grafikkarten und Netzwerkbandbreiten stellen hier aber natürliche Hindernisse dar; Hindernisse allerdings, die Moore's Law ständig weiter nach vorne schiebt. In zehn Jahren, mit der hundertfachen der heute zur Verfügung stehenden Rechenleistung, wird es nahezu unmöglich sein, Bilder aus der virtuellen von solchen aus der physischen Realität zu unterscheiden - wenn denn maximaler Realismus gewünscht wird ...
Zu große Entfernung von der bekannten Realität ist nicht sinnvoll
Wer seine ersten Stunden in There oder Second Life verbringt, wird - wie teilweise mein Publikum - erstaunt feststellen, dass Vieles arg bekannt vorkommt: Die meisten Gebäude sehen aus wie "normale" Häuser, Autos sehen aus wie Autos und Diskos wie ... Diskos. Und obwohl Avatare fliegen können, haben Häuser Treppen und die Avatare sitzen auf coolen Sofas, obwohl in einer virtuellen Welt die Füße niemals müde werden. Die "Welcome Area" von Second Life (hier links), wird keinen Newcomer verwirren. Weil hier fast alles so "ausschaut, wie zu Hause".
Und das in einer virtuellen Welt? In der ALLES möglich ist? Sind die Leute so phantasielos? Ja, die meisten schon. Auch die Bewohner von virtuellen Welten betreten diese mit Erwartungen, Wünschen und Träumen, die durch die physische Realität geprägt sind. Deswegen sind die Häuser alle etwas größer und luxuriöser, sehen aber aus wie Häuser. Und an vielen Küsten liegen elegante Jachten - die oft nicht einmal "seetüchtig" sind.
Diesen Mangel an Phantasie mag man beklagen. Sinn macht das aber nicht. So sind die (meisten Menschen) nun einmal. Und, wer in virtuellen Welten Geschäfte machen möchte, tut gut daran, das zu berücksichtigen. Wie zum selben Thema mein Second-Life-Kollege Forseti Svarog einmal bemerkte:
Special and digital effects in traditional film making are so advanced now that one can shoot an entire movie in front of a blue screen, and fill in the background later. [...], but most movies are still set in real-world locations and environments. Why? I’ll leave the real debate to film aficionados, but I would argue that to tell the story properly, you need to put the audience in a setting that makes sense and that they can relate to.
Genau darum geht es: Für experimentelle Zwecke oder als "Kunst" mag es interessant sein, Dinge "ganz anders" zu machen, die Naturgesetze, die Erwartungen und die Erfahrungen meines Publikums völlig zu ignorieren. Wenn ich aber "eine Nachricht 'rüberbringen" oder gar etwas verkaufen will, dann tue ich das am besten nicht auf eine Weise, bei der meine Kunden Stunden brauchen, um es zu verstehen - oder die ich gar erklären muss.
Oder, um das Motto der Agentur, für die ich aktuelle wieder arbeite, einmal zu zitieren: gute Kommunikation ist simple, straight und surprising. Gute Werbung zum Beispiel ist oft überraschend. Sie muss aber auch einfach und klar, gradlinig sein. Kommunikation, die die Adressaten nicht verstehen, oder solche, die Erklärungen benötigt, kann nicht effektiv sein.
Deshalb bauen Firmen, die eine Präsenz in Second Life erstellen wollen, ein Gebäude - obwohl es niemand wirklich braucht. Aber auch in den heutigen Zeiten der vernetzen Wirtschaft verbinden Kunden mit einem seriösen Unternehmen ein Bürogebäude. Deswegen sehen diese Gebäude auch aus wie Gebäude in der physischen Realität - obwohl es keine Schwerkraft, keine Erdbeben und keine Probleme mit der Statik gibt. Denn was nutzt mir die Metapher eines beeindruckenden Firmensitzes, wenn sie niemand versteht. Niederlassungen, wie die der PR-Agentur Text 100 gehen mit ihrer die Schwerkraft ignorierenden Architektur, schwebenden Gebäuden und 3D-Auditorien (rechts im Bild) an die Grenzen des Verdaubaren.
Selbiges gilt für Privatmenschen: Wenn sie ihren Nachbarn vermitteln wollen, dass sie cool, sexy und (erfolg)reich sind, tun sie das in der "Sprache" also mit den Metaphern, die ihnen aus der physischen Welt vertraut sind: mein Gesicht, mein Körper, meine Kleidung, mein Haus, meine Yacht ...
ANMERKUNG: Ja, der aufmerksame Leser dieser Seiten wird bemerkt haben, dass dieses Thema vor ein paar Wochen schon einmal auf Englisch behandelt wurde. Nach den Gesprächen der letzten Tage musste ich es aber einfach noch einmal wieder aufwärmen. Insbesondere der Kontrast zwischen "Das ist doch alles noch gar nicht realistisch genug" zu "Wieso orientiert sich das alles so stark an den Muster der physischen Realität" innerhalb ein und der selben Gruppe war einfach zu interessant.
Was die erforderliche Realitätsnähe für das virtuelle Erlebnis angeht, gebe ich Dir recht: Mit das aufregendste Spielerlebnis hatte ich vor vielen Jahren mit "Hack", als die Orks und Monster noch $ oder ? in einem Labyrinth aus ASCII-Grafik waren.
Daß aber in SL die Gebäude wie aus einer amerikanischen Vorstadt oder aus Disneyland aussehen, liegt sicher zum Großteil auch daran, daß für dieses neue Medium noch nicht die passenden Formen und Strukturen gefunden wurden.
Ein Beispiel: erst kürzlich habe ich wieder mal festgestellt, daß man garnicht überall hinfliegen kann und sich z.B. zu einem Luftschloß erst einen Weg suchen muß. Da wären "Flyways" ganz sinnvoll, die auch sofort als solche erkennbar sind.
Aber das war bei vielen neuen Technologien so. Die ersten Autos sahen ja auch nicht wie Kutschen aus, weil die Konstrukteure oder Kunden das so wollten, sondern weil diese Formsprache und Karosserietechnologie schon zur Verfügung stand und man sich noch nichts anderes vorstellen konnte.
Das wird noch spannend für uns Designer und Architekten.
Posted by: Jürgen Tepe | Thursday, 19 October 2006 at 13:14
Also, ich gebe Dir Recht, dass die Qualität der Rendering-Engine nicht unbedingt Garant für ein Gefühl in eine 3D-Welt einzutauchen ist. Doch auf allen bisher getesteten Maschinen kam nichtmal ansatzweise ein Spielspass auf, was eher an der technischen Umsetzung liegt. Es rueckelt und laggt extrem stark. Kann ja nicht sein, dass ein Macbook (ok, kein wirklicher 3D-Chip), ein iMac G5 (geForce FX 5200 (ok, auch schon älter)) aber auch ein P4 mit Radeon 9800Pro (auch nicht mehr state of the art) nicht dafür geeignet sind. Selbst wenn ich so fast alles an Einstellungen herunterschraube ruckelt es sehr stark und die texturlose Polygonwelt reicht da nun wirklich nicht mehr für ein Erlebnis..Ich habe es mittlerweile 4 mal probiert mich darauif einzulassen, aber so lange die Engine nicht ansatzweise vernünftig auf meiner semi-aktuellen Hardware läuft bin ich von Second Life ausgeschlossen. Sehr schade, denn die Affinität zu 3D-Welten ist durchaus vorhanden. WoW und Anarchy-Online habe ich geliebt. Selbst das 5 Jahre alte Anarchy-Online ist technisch besser... Schade. Wirklich!
Posted by: equinox | Friday, 20 October 2006 at 08:04
Guter Text - und absolut richtig der Hinweis, dass wir die "Objekte" in virtuellen Welten (darunter fasse ich auch Räume und Avatare) nicht völlig frei und beliebig gestalten können. Sicherlich sind virtuelle Umgebungen denkbar, die nicht den Regeln der euklidischen Geometrie folgen, aber um als Raum für Interaktionen dienen zu können (und nicht als künstlerisch-experimenteller Selbstzweck), müssen sie die Tatsache, dass sie virtuell sind, möglichst verschleiern. Und das tun sie, indem sie an vertraute kognitive und soziale Schemata anknüpfen, also an unser räumliches Vorstellungsvermögen oder an unser Wissen um Statussymbole.
Letztlich zeigt sich darin m.E. auch, dass die strikte Trennung zwischen "realer" und "virtueller" Welt nicht aufrecht zu erhalten ist, da wir das Virtuelle immer nur auf der Grundlage von Wissen erfahren können, das wir in der realen Welt gesammelt haben.
Posted by: JanSchmidt | Friday, 20 October 2006 at 11:28
@equinox: ich habe das dumpfe Gefühl, das bei deinem System-setup irgend ein anderes Problem besteht. von den 5 Systemen, mit denen ich gelegentlich SL nutze, liefern 2 ein gutes und 4 ein brauchbares ergebnis. lediglich mein gutes altes PowerBook ist von SL überfordert. Weniger als 128MB dedizierter Grafik-Speicher sollten es nicht sein.
@Jan: Die Trennung zwischen virtueller und physischer Welt wird auf Dauer keinen Bestand haben. Für den Alltagseinsatz werden "mashups" zwischen virtueller und physischer Welt vermutlich viel bedeutsamer sein, als "pur" virtuelle Welten. Stichwort "augmented Reality". Eine schöne Dramatisierung dazu findest Du bei Vernor Vinge: Rainbows End.
Posted by: Markus Breuer | Friday, 20 October 2006 at 15:51