Kritiker und Fans der virtuellen Welt Second Life entdecken den "Gartner Hype Cycle". Interessant, denn eines meiner Lieblings-Meme (sich selbst vervielfältigende und ausbreitende Gedankenmuster und Ideen; siehe auch hier) ist der Gartner-Hype-Cycle. Dieses Gedankenmodell beschreibt, wie neue (meist technologische) Entwicklungen in die Welt kommen, wie sie zunächst nahezu unbeachtet bleiben, das Interesse an ihnen dann explodiert, nach ersten Enttäuschungen wieder abflacht und schließlich ein "normales" Niveau erreicht. Mehr dazu in alten Notizen aus 2004 und im Detail weiter unten ...
Für mich ist es ganz selbstverständlich, die Akzeptanz neuer Technologien, wie zum Beispiel die von Second Life, im Kontext eines Hype Cycles zu sehen. Hype Cycles erklären aber lediglich den Verlauf des öffentlichen Interesses an "etwas Neuem". Sie lassen sich weder dazu verwenden, um dieses "Neue" abzukanzeln ("alles nur ein Hype") noch dazu, es als dauerhaft erfolgreich zu segnen ("Ihr werded schon sehen ..."). Was die meisten, die diesen Begriff einfach einmal cool in die Diskussion werfen, verkennen, ist die Tatsache, dass ein Gartner-Hype-Cycle das öffentliche Interesse beschreibt. Es geht nicht um die Nützlichkeit einer Technologie. Es geht nicht um die Zahl der Anwender, nicht um den Umfang der Geschäfte damit ... sondern nur darum, wie die Presse darüber berichtet!
Die Schlüsse, die einige Leute aus der Anwendung des Hype-Cycle-Gedankenmodells auf Second Life ziehen, sind deshalb sehr diskutabel und stark von persönlichem Empfinden gefärbt. Wer Second Life skeptisch betrachtet, sieht die Plattform auf dem Absturz, der dem "Gipfel der überzogenen Erwartungen" folgt. Selbst nüchterne Kritiker missverstehen die ersten kritischen Stimmen als überschrittenen Zenith.Währendessen sehen einzelne Fans Second Life bereits trotzig am "Hang der Erleuchtung" oder gar auf dem "Plateau der Produktivität". Beide Ansätze sind ... zweifelhaft, um es freundlich zu sagen. Wer solche Thesen vertritt, sollte sich dringend noch einmal die Beschreibung von Hype Cycles bei Gartner zu Gemüte führen,
Selbstverständlich gibt es überzogene Erwartungen an Second Life - und dementsprechend Kritiker die "Bullshit" rufen. Ein Backlash beginnt. Das können sachliche Kritiken sein, oder subjektive "Ich finds einfach doof"-Haltungen, die letztendlich persönliche Präferenzen ausdrücken. Ein Problem ist natürlich die oberflächliche Berichterstattung in vielen Medien, die selbst bei seriösen Kritikern zu Missverständnisses führt (kritisiert wird da gelegentlich nicht der Ist-Zustand sondern Behauptungen aus anderen Publikationen und euphorische Fan-Berichte). Aber auch das ist völlig normal in der Aufmerksamkeitsökonomie eines Hype Cycles.
Hype Cycles haben allerdings eine größere Wellenlänge als Kritiker und Fans gerne wahrhaben wollen. Der Gipfel des Medienhypes ist sicherlich noch nicht erreicht (oder gar vorbei); auch der Gipfel des Kritikerzorns steht uns noch bevor. Das wird eventuell in 2007 passieren. Und der "Hang der Erleuchtung" oder gar das "Plateau der Produktivität" ist nach der Gartner-Definition sicherlich noch mindestens ein bis zwei Jahre entfernt.
Und egal, wo man Second Life auf der Kurve des Hype Cycles sieht: damit ist keinerlei Erkenntnisgewinn darüber verbunden, ob virtuelle Welten (und Second Life ist nur einer frühe unvollkommene Ausprägung dieser Technologie) sich dauerhaft als nützlich und akzeptiert herausstellen.
Dazu ein paar Worte zur Idee des Hype Cycles an sich:
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Was ist ein Hype Cycle?
Die Unternehmensberatung/Marktforschungstruppe Gartner, Inc. hat den Begriff 1995 geprägt, um das interessante Phänomen zu beschreiben, wie das öffentliche Interesse an einer neuen Technologie manchmal geradezu explodiert, dann genauso abrupt wieder in sich zusammenbricht und irgendwann später wieder aufflackert. Letztendlich beschreibt das Modell, wie die Presse mit technologischen Neuerungen umgeht - und warum sich vernünftige Unternehmer in ihren Entscheidungen davon nicht beirren lassen sollten.
Und nochmals: was hier beschrieben wird, ist die öffentliche Aufmerksamkeit, nicht die Anwenderakzeptanz oder die geschäftliche Attraktivität. Ein schönes Beispiel dafür ist eCommerce. eCommerce erreichte 2000 den Gipfel der überzogenen Erwartungen. Die Presse verlor in 2001 nahezu jegliches Interesse daran - und gleichzeitig investierten vorausschauende Unternehmen in dieser Zeit - im "tiefen Tal der Enttäuschung" also - Millionenbeträge in eCommerce-Plattformen und machen damit heute gewältige Umsätze und Gwinne.
Gartner unterscheidet 5 Phasen in einem Hype Cycle
- Die Zündungsphase (Technology Trigger).
Sie begint mit einem vielversprechenden Produkt-Launch oder einem anderen wichtigen Ereignis, das die Presse (heute auf die Blogosphäre) aufnimmt und damit Aufmerksamkeit ausserhalb des engen Spezialistenzirkels verursacht. Kleine, innovationsfreudige Unternehmen setzen erste Projekte um, die für die Presse sexy aussehen. Einer schreibt vom anderen ab, interessierte Kreise heizen das Ganze weiter an und bald redet jeder über dieses coole "neue Ding". Berufs-Skeptiker melden sich und weisen auf die bestehenden Schwächen hin. Dies aber reizt die "Fans" und Profiteure erst recht. Dies führt zum ... - Gipfel der überzogenen Erwartungen (Peak of Inflated Expectations).
Auch die Publikums-Presse berichtet nun vermehrt und in oberflächlichster Form. Das Hochjubeln führt zu übersteigerten Erwartungen, was die neue Technologie alles kann. Erste Projekte erfüllen erkennbar nicht die an sie gestellten Erwartungen und der Absturz beginnt ins ... - Tal der Enttäuschung (Trough of Disillusionment).
Die Presse verliert das Interesse an der Technologie. Sie ist nicht mehr neu. Alles ist gesagt. Angesehene "Experten" behaupten, dass das eh alles kalter Kaffee wäre und die fehlgeschlagenen Projekte scheinen das zu bestätigen. Wärenddessen laufen die Entwicklungen aber weiter. Etablierte Großunternehmen steigen in den Markt ein und entwickeln die ersten Ansätze in aller Ruhe weiter. Verbesserte Lösungsansätze und pragmatischere Erwartungen führen zum ... - Hang der Erleuchtung (Slope of Enlightenment).
Hier wird den Anwendern langsam klar, was man mit der Technologie machen kann - und was nicht - wie Kosten und Nutzen zueinander stehen. Renommierte Großunternehmen stellen erfolgreiche Ansätze vor und nach einer Weile, beginnt auch die Presse, diese wahrnehmen. Wir erreichen das ... - Plateau der Produktivität (Plateau of Productivity).
Die Technologie ist akzeptiert. Es wird (richtig) Geld damit verdient und alle großen IT-Unternehmen und Consulting-Häuser bieten sie in ihrem Portfolio an. Die innovationsfreudigen jungen Unternehmen haben das Interesse daran verloren - wie auch die Publikumspresse. Die Berichterstattung findet vorwiegend in Fachpublikationen statt.
Und was lernen wir daraus?
Auch neue Technologien - oder zumindest das öffentliche Interesse daran - durchlaufen einen Schweinebauchzyklus. Öffentliche Aufmerksamkeit für und Nutzen einer Technologie haben wenig miteinander zu tun. Ob eine Innovation sich auf Dauer durchsetzt hängt allein davon ab, ob sie einen echten Zusatznutzen gegenüber dem "Bewährten" bietet - ob sich damit ordentlich Geschäfte machen lässt. Das kann in den ersten Phasen des Zyklus kaum objektiv festgestellt werden.
Ich glaube daran, dass virtuelle Welten wie Second Life eine Entwicklung darstellen, die sich als dauerhaft nützlich herausstellen wird. Indizien dafür gibt es. Beweisen kann man es kaum. Widerlegen auch nicht. Die Zeit wird es zeigen. Und Begriffe wie "Hype" oder "Hype Cycle" sind extrem nützlich, wenn man sie wertfrei dafür verwendet, die Aufmerksamkeitsökonomie zu beschreiben. Für die Bewertung einer Technologie eignen sie sich überhaupt nicht - und sind auch nicht dafür gedacht.
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