Obwohl mir Sebastian letzte Woche schon stolz mitteilte, dass ein ganzer Satz von ihm im nächsten SPIEGEL kommen würde, war ich dann doch überrascht, als ich Selbigen heute Morgen aus dem Briefkasten holte: Auf dem Cover Second Life. Damit scheint der aktuelle Hype um diese Platform so langsam wirklich dem Höhepunkt entgegen zu streben.
Nach der Lektüre des Artikels war ich schon etwas ernüchterter: zwar läuft der Text über ein rundes Dutzend Seiten (!) aber im Grunde ist es ein typischer Saure-Gurken-Zeit-Artikel. (Nicht vergessen: in weiten Teilen Deutschland regiert ja zwischen Donnerstag und Dienstag der virtuelle Rinderwahn namens Karneval. Und Second Life wird sozusagen als digitaler Karneval dargestellt.)
Nein, Stop, das ist ein bisschen unfair. Zwar werden - wenn auch dezent - die üblichen Vorurteile in Sachen Sex und Second Life durchgekaut. Und natürlich spielt auch die gute Anshe Chung wieder ihre unvermeidliche Rolle als Vorzeigeunternehmerin (am Anfang und am Ende liest sich der Text wie eine Dauerwerbesendung für ihre Firma ACS). Die Recherchetiefe lässt sich einem Zitat wie "Aufbau eine gigantischen Firmenfiliale" entnehmen, wenn der weitere Text erkennen lässt, dass es um den üblichen "Sim" handelt, nicht klein aber eben die normale Größe für eine solche Niederlassung. Spiegel-Redakteurin Rebecca Casati befürchtet hinter dem Slangausdruck "Hun" die abschätzige Bezeichnung für Deutsche (Hunne), wobei sich dahinter nur das verbalhornte "Honey" verbirgt. Zugangsbeschränkungen zur Grundstücken werden zu "Glasscheiben, die zum Himmel reichen". Na ja ...
Aber das sind Randerscheinungen. Wie bei diesen Redakteuren nicht anders zu erwarten (die Kulturredaktion bis hinauf zu Matussek war am Werk), spielen Wirtschaft und selbst Sex eine eher untergeordnete Rolle. Stattdessen wird Second Life in einen kulturhistorischen bzw. fast schon philosophischen Hintergrund gestellt. Da wird das Prinzip der Mimesis angeführt, virtuelle Welten in einen halb-religiösen Kontext gestellt, Foucault, Baudrillard Adorno und Horkheimer bemüht. :)
Lesenswert!
Zuviel der Ehre? Hmmm ... vielleicht. Tatsächlich glaube ich, dass diese Überlegungen das Phänomen Second Life tatsächlich viel besser erklären, als die irrige Annahme, dass dort alle Leute nach schnellem Geld oder virtuellem Sex suchen. Vielleicht überschätzen die Spiegel-Redakteure die Wichtigkeit der "digitalen Maske" etwas, aber tatsächlich sind es wohl wirklich die Freiheiten, die Second Life dem Anwender einräumt, sich selbst darzustellen und dabei die Beschränkungen der physischen Realität hinter sich zu lassen, die einen großen Teil des Erfolges von Second Life ausmachen. Dies sind allerdings nicht - zumindest nicht allein - die Freiheiten, sich einen schöneren Körper oder ein größeres Haus zuzulegen. Für viele Anwender sind es die Freiheiten, Dinge zu schaffen und zu gestalten oder Tätigkeiten auszuüben, die ihnen in der physischen Welt nicht offen stehen. Manche haben damit sogar ganz erstaunlichen Erfolg; nicht immer nur monetären.
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Mir scheint, als ob SL nur exemplarisch für das menschliche Grundbedürniss der Maskerade und des bewussten verschleierns des eigenen ICH´s geschildert wird.
In Wirklichkeit geht es -gerade in diesem Artikel- nicht um Faktenwissen aus SL, sondern viel mehr um die gesellschaftliche Bedeutung verschiedener Rollenmodelle und gesellschaftliche Identitäten. Doppellleben, Paralelwelten, Subgesellschaft sind z.B. Stichworte welche in eingeschlagenem Aufbau des Artikels fehlen.
Chats, World of Warcraft, SL usw. sind erst der Anfang für die "Maskerade".
Posted by: Oliver | Sunday, 18 February 2007 at 10:47
Sorry, ich bin mir nicht ganz sicher, was mir dieser Kommentar sagen will.
Aber, bei allem Respekt vor diesem Kommentar (und der Kulturredaktion des SPIEGEL): das Wort "Maskerade" und der plakative Vergleich mit dem Karnevall auf dem Titelblatt kann m.E. irreführend wirken und wird dem Thema nicht ganz gerecht. Ich denke nicht, dass es in SL darum geht, eine Maske aufzusetzen - zumindest nicht in dem Sinne, meine Indentität zu VERBERGEN. Es geht zumindest einigen Anwendern mehr darum, Facetten ihrer Persönlichkeit zu ZEIGEN, die in der physischen Realität, warum auch immer, verborgen bleiben.
Ich bin auch nicht der Ansicht, dass in diesem Zusammenhang "Faktenwissen" Prio 1 hat. Bei einer so lässigen Recherche-Arbeit wie in diesem Fall frage ich mich allerdings "Würde Matussek auch über ein Buch schreiben, ohne es durchgelesen zu haben?" ;)
Posted by: Markus Breuer | Sunday, 18 February 2007 at 11:28
Das ist toll. Philsosophen bemühen um möglichst smart dazustehen aber nicht mal alle Grundzüge des zu behandelnden Sujets verstanden haben.
Andererseits, es ist der Spiegel. Da lohnt das Aufregen nicht.
Posted by: marcel weiss | Sunday, 18 February 2007 at 14:27
gerade darum, weil es bei SL nicht um Maskerade geht, ist ja der SPIEGEL-Artikel samt Deckblatt imho so missraten. Oder wie kann man sich die die Abbildung von Spion Guillaume, Terrorist Klar und Stasi Böhme im Zusammenhang mit SL erklären?
Das ist mein Lieblingssatz im ganzen Artikel: "Doch die Magie der Masken, die den Schamenen die Kraft zur Transzendenz verlieh und den venezianischen Verführern die Freiheit der Triebe, diese vegöttlichenden und verrohenden Masken funktionieren noch immer."
Posted by: Oliver | Tuesday, 20 February 2007 at 21:13
Eigentlich habe ich auf diesen Artikel einen Trackback gesetzt. Ich weiß leider nicht warum der nicht an kommt.
Dann halt manuell:
http://marnem.twoday.net/stories/3348216/
Posted by: Korbinian | Wednesday, 21 February 2007 at 17:02
Da gibts ne neue Statistik zu SecondLife...
http://blog.auri-media.de/p/103/second-life-top-oder-flop
Posted by: Julius Firl | Monday, 19 March 2007 at 18:10