Wenn ein Hypecyle kurz davor steht, seinen Höhepunkt zu erreichen, ist es normal, dass sich vermehrt Kritiker melden. Deswegen bezeichnet Gartner diesen Höhepunkt auch als "Peak of inflated Experience". Es sind die übersteigerten Erwartungen, die letztendlich dazu führen, dass die enttäuschten Anwender - und gelangweilten Journalisten - kritisch werden. Second Life scheint sich dieser Phase zu nähern. Völlig normal so weit. Was mich aber wundert, ist die Form dieser Kritik. So steigt gerade in Deutschland die Zahl der Kritiker, die nicht nur genervt ob der massiven Medienpräsenz dieses Themas sind sondern sogar "Gefahren" wittern. Gefahren?
Eine schöne Sammlung von Meinungsäußerungen dieser Art findet sich in den Kommentaren zu Mario Sixtus schwer angenervtem Rant "Meine ultimativ letzten Worte zu Second Life".
Nun es es ja durchaus nichts Ungewöhnliches, dass Menschen unterschiedliche Meinungen zu einem Thema haben und die auch äußern. Dazu ist zum Beispiel die Kommentarfunktion in Weblogs ja da. Es ist auch nicht ungewohnt für mich persönlich, auf Menschen zu treffen, die zu bestimmten Themen ganz anderer Ansicht sind als ich. Im Gegenteil: über die letzten 20 Jahre lang habe ich mich beruflich und privat fast ausschließlich mit Technologien beschäftigt, die von der Mehrzahl meiner Mitmenschen für irrelevant und überflüssig gehalten wurden: grafische Benutzeroberflächen, Desktop Publishing, multimediale POI-Systeme, CD-ROMs, das Worldwide Web, E-Commerce, Weblogs ...
Ungewöhnlich finde ich bei Second Life aber, wie emotional die Diskussion teilweise geführt wird. Vielleicht verkläre ich das in einem Anfall von früher Senilität, aber ich kann mich einfach nicht erinnern, schon einmal (wenn auch nur punktuell) eine so aggressive Ablehnung einer Technologie - Atomkraftwerke mal ausgenommen - erlebt zu haben. Natürlich gibt es auch wieder die üblichen Kritiker, die sich fragen, wozu man den so etwa braucht, bzw. sich sicher sind, dass es eigentlich niemand braucht. Aber so massive Sorgen bis hin zu einzelnen Kritikern, die sich dazu versteigen, virtuelle Welten als nachgerade "gefährlich" zu bezeichnen, sind mir noch nie untergekommen.
Hat irgendjemand eine Idee, woran das liegen könnte?
Technorati Tags: second life, web 3.d
"Ungewöhnlich finde ich bei Second Life aber, wie emotional die Diskussion teilweise geführt wird"
Wirklich? Mich überrascht das ehrlich gesagt überhaupt nicht, um nicht zu sagen, mich würde es wundern, wenn es gerade an dieser Sollbruchstelle der Identität besonders nüchtern zugehen würde. Hinzu kommt, dass ich persönlich ziemlich genervt bin davon, dass alle (aus dem erweiterten Medienumfeld), die ich frage, was sie von Second Life halten, sagen, das sei relevant und man müsse sich damit befassen, dabei aber gleichzeitig einschränken, für sie persönlich sei das allerdings nichts. Was ist denn da bloß los?
Posted by: KP Frahm | Wednesday, 21 March 2007 at 09:38
Ich interpretiere den Artikel eher so, daß Sixtus von der Reaktion der Medien und Marketingbranche genervt ist als von Second Life selbst. Eine Bebachtung von Sixtus teile ich: Die Macher klassischer Werbung (Print+Fernsehen) sehen wie sich Ihre Arbeitsfelder auflösen und tun sich mit Internet und Web 2.0 schwer. Nicht jeder hat die Kompetenz so erfolgreiche Blog wie die "Notizen" aufzusetzen. :-)
Posted by: Matthias Rückel | Wednesday, 21 March 2007 at 10:00
Was mich angeht, bin ich nicht genervt von SL an sich oder per se; weil ich es immer noch als Onlinespiel wie World of Warcraft etc sehe und an einem Onlinespiel ist grundsätzlich erst mal nichts auszusetzen.
Aber:
Was mir gehörig auf den Keks geht bzw. was ich immer lächerlicher finde ist der Hype, den nun viele für bare Münze zu nehmen scheinen.Insbesondere die Werbebranche, die anscheinend nix aus der Internetblase 1.0 gelernt hat.Was eben den jetzigen "Let's go SL" Hype mit der damaligen Blase verbindet ist, dass mal wieder überhaupt nicht interessiert, wieviel Sinn oder Unsinn eine Unternehmung überhaupt macht - sei es für den Nutzer/Endkunden oder für den Unternehmer.
Das gilt natürlich nicht nur für SL sondern den ganzen Web 2.0 Hype insgesamt- die Anzeichen einer Wiederholung des Blase 1.0 Irrsinns mehren sich einfach.Second Life erfüllt ja noch wenigstens eine Funktion (Spielen), trotzdem kann man hier wunderbar beobachten, wie die Werberwelt mal wieder jeglichen Verstand beiseite lässt.
Typische Anzeichen dafür sind Ideen wie "sich mit Geschäftspartnern in SL treffen und Konferenzen abhalten"..
Hallo ?!
Am Verstand zweifle ich übrigends auch bei denjenigen, die Second Life für etwas anderes als ein Onlinespiel halten - es wird nie "Matrix" werden, so sehr sich einige das auch wünschen.
Warum die Reaktionen teilweise so emotional sind (um auf die Ausgangsfrage zu kommen):
Meiner Meinung nach, weil es eben schon mal eine Internetblase gegeben hat, die dann geplatzt ist und es jetzt so aussieht, als hätten eine Menge Leute immer noch nichts draus gelernt.
Und - das Aufspringen auf einen Hype, sei er noch so sinnlos spiegelt auch irgendwie den derzeitigen Zustand unserer Gesellschaft wieder, quasi die allgegenwärtige Suche nach Sensationellem, das Promi-Sein um des Promi-Seins willen - alles und jeden aufzublasen, ganz egal wieviel Substanz vorhanden ist.
Bei Second Life wie auch beim generellen Web 2.0 Hype ist abzusehen, wann und dass sich das alles irgendwann sehr beruhigen wird und "the next big thing" eh schon vor der Tür wartet - warum also gibt speziell die Werbebranche so dermassen ihren Verstand an derselbigen Tür ab ?
Posted by: Frank | Wednesday, 21 March 2007 at 10:42
@KP: Ich bin nicht verwundert, dass sich eine lebhafte Diskussion um Second Life und virtuelle Welten ergibt. Aber ich bin - ehrlich - verwundert, dass diese so häufig unter dem Gesichtspunkt "Gefahr" bis hin zu "Untergang des Abendlands" (ich übertreibe) geführt wird. Damit meine ich nicht Mario's Beitrag sondern einige der Kommentare dort, sowie weitere Kommentare hier, die teilweise geradezu hasserfüllt sind. Woher diese Angst (zumal bei Menschen, die beschlossen haben, diese Technologie gar nicht anzuwenden)?
@Matthias: Wie schon gesagt: es ist nicht Mario's Artikel, der mich ratlos zurücklässt, sondern die sorgenvollen bis verängstigten Kommentare. (Wenn ich mich auch beim Schöpfer eines der erfolgreichsten Videoblogs in Deutschland wundere, wie er glaubhaft den Untergang des geschriebenen Wortes beklagen kann ... Die SCHRIFTsprache wird schon weitaus länger "bedroht" als es das Internet oder PCs - geschweige denn Second Life - gibt.)
@Frank: ein Hype ist etwas Normales und in der Medienkultur völlig unvermeidlich. So tickt diese Welt nun mal. Es gab auch immer schon Hype-Wellen. Nur sind sie heute schneller und steiler. Ob eine Sache sinnvoll und gut oder überfüssig bzw. überbewertet ist, läßt sich aber nicht daran festmachen, ob sie von einem Hype begleitet wird oder nicht. Tatsächlich ist ein Großteil der Technologien, die die geplatzte Internet-Blase von 2000/01 getrieben haben, heute etablierter Stand der Technik und es wird richtig Geld damit verdient. :) Das vergessen Kritiker dieser Blase gerne.
Der Hype ist lästig und tatsächlich wird primär dieser bei Mario attackiert. Er selbst deklariert Second Life ja mehr oder weniger als überflüssig. Das ist OK und eine vertretbare Meinung - selbst, wenn ich diese nicht teile.
Eine solche Technologie aber PRIMÄR unter dem Gesichtspunkt der Bedrohung zu sehen, wie es einige Kommentatoren hier und bei Mario (oder Herr Seehofer) tun, ist mir persönlich schwer nachvollziehar und scheint mir keine besonders konstruktuve Haltung im Umgang mit solchen Neuerungen zu sein.
Posted by: Markus Breuer (Pham Neutra) | Wednesday, 21 March 2007 at 11:11
Hatte das große Glück ein Interview mit einem virtuellen Architekten zu bekommen. Er hat ein paar interessante Gedanken dazu:
Die Zukunft der virtuellen Architektur
http://www.atelierprozess.net/hoog/interview.htm
Posted by: Jochen Hoog | Wednesday, 21 March 2007 at 11:38
Hallo,
so besonders hitzig finde ich die Diskussionen / Berichterstattungen meist gar nicht. Was die "Gefahren" angeht: Auch wenn sich SL nicht unmittelbar und ausschließlich als Computerspiel bezeichnen lässt, steht es dem doch sehr nahe. Daher kommt auch gleich die extreme Polarisierung durch: "Jugendgefährdende, killerzüchtende Suchtmittel" oder "Moderner Freizeitvertreib" ...
vg
Jan
Posted by: Jan Bengia | Wednesday, 21 March 2007 at 12:04
Hallo Markus Breuer,
"Was ist es eigentlich, das so polarisierend an Second Life wirkt?"
Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt - aus eigenem Erleben heraus. ...
@Atomkraftwerke: Sie wurden/werden deshalb so stark abgelehnt, weil ihre Radioaktivität die tiefste Basis des materiellen, organischen Lebens bedroht. Das berührt jeden, der nachdenkt.
Kann es sein, daß analog die Ablehnung von Second Life damit zu tun hat, daß das Erleben in solchcen virtuellen Welten für manche Menschen die Basis ihres weltanschaulichen Lebens bedroht?
Warum? Es war hier schon die Rede vom faszinierenden/erschreckenden Gefühl des "Dort-Seins", das sich nach kurzer Zeit in SL einstellt. Ich glaube, das ist der Punkt. Wir erleben, wie wenig visueller, dynamischer, selbstgesteuerter 3D-Input (in wahrlich begrenzter Qualität) genügt, um unsere Selbst-Identifikationsmechanismen anspringen zu lassen, wie wir es sonst nur vom Erleben mit dem eigenen Körper kennen.
Diese neue Erlebensmöglichkeit ist eine Art kopernikanische Wende der Selbstidentifikation. Identifizieren mit einer Film- oder Romanfigur, das kennen wir. Dort ist es aber immer der Autor, der die Geschichte steuert. Im Hier & Jetzt Selbst zu bestimmen, wohin wir gehen, was wir sehen und tun ist DER Auslöser für das Gefühl, SELBST an einem Ort zu sein. Das kannten wir so bisher nur aus dem "echten" Leben.
Solch neue Erlebnissqualitäten rütteln an den vertrauten Vorstellungen davon, was "Realität" bedeutet.
Je nach persönlichem Hintergrund und Charakter begrüßt der einzelne solche Horizonterweiterungen begeistert, oder er "verteufelt" sie möglicherweise, weil sie sein gewohntes Weltbild tief verunsichern.
Ungewohntes Verselbstständigen der Selbst-Identifikation konfrontiert doch mit der Frage: Bin ich (nur) mein Körper, meine Gefühle, meine Gedanken? Bin ich ein Name, meine Vorlieben oder Abneigungen, mein materieller oder geistiger "Besitz"?
Wie kommt das ICH-Gefühl zustande? Die Buddhisten haben zu dem Thema in den letzten zweieinhalbtausend Jahren eine Menge kluge Ideen und Praktiken gesammelt ;-)
Second Life ist auch in anderer Hinsicht potentiell polarisierend. Der Web-2.0 Aspekt des Teilens von der Kreativität aller Teilnehmer wird hier in Bezug auf unseren kapitalistischen Alltag fast subversiv - funktioniert doch unsere gesamte Wirtschaft heute auf der Basis, daß eine kleine Handvoll von privilegierten Kreativen und ihren Vermarktern den gesamten Rest oligopolartig mit ihren Produkten versorgt. Einzel-Kreative haben praktisch keinen nennenswerten Marktzugang.
Daß in SL der einzelne eine kaum reglementierte, komplette Infrastruktur zum kreativen Umsetzen seiner Ideen vorfindet , ergänzt durch eine wirtschafliche Infrastuktur wie ein Währungssytem mit unkomplizierten Bezahlmöglichkeiten, setzt bei denen, die ihre Ideen immer durch die vielen Grenzen und Zugangsbeschränkungen in RL blockiert gesehen haben, Begeisterung und Engagement frei.
Wer mit dem Thema unreglementierte Kreativität "von unten" eher Probleme hat, wird freie virtuelle Welten möglicherweise eher als anarchistische Bedrohung wahrnehmen.
Für mich ist diese Auseinandersetzung um die neuen virtuellen Welten jedenfalls eine der Interessantesten, die mir seit langem begegnet sind - philosophisch, politisch, sozial, webtechnisch, künstlerisch. Das Thema virtuelle Welten wird uns in den nächsten Jahren noch viel beschäftigen. Ich glaube, es könnte auch bei der kollektiven Weiterentwicklung unseres Menschen- und Menscheitsbildes ein wichtiges Thema sein.
Zum Schluß noch ein Kompliment - mir haben die Texte dieses Blogs durch den weiten Horizont viele Anregungen gegeben. Ich schaue regelmäßig vorbei. Danke!
Martin Garms
Posted by: Martin Garms | Wednesday, 21 March 2007 at 15:30
Ich glaube, die ablehnende Haltung und das vorausahnen von Gefahren durch SL kann man mit nur einem Satz gut beschreiben: was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht.
Und, wer keine Ahnung hat, .....
Wer sich tiefgehender über SL und mögliche Gefahren informieren will, dem kann ich nur die folgende Studie ans Herz legen (ich glaube, sie wurde hier auch schon empfohlen):
http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-01/3-01review-doering-d.htm
Informationen zu diesem Thema finden sich auch hier:
http://psychologieblog.de/2006-10-26/second-life-%e2%80%93-die-neue-droge/
Also, viel Spass weiterhin im SL,
Takeshi
Posted by: Takeshi Nordlicht | Wednesday, 21 March 2007 at 18:33
vorneweg: second life ist für mich ausdruck einer idee, unabhängig von der realen plattform. und diese idee ist nun in der welt. und wir müssen reagieren.
was also ist der grund der starken reaktionen?
meine meinung? es ist angst!
die reaktion ist emotional, nicht rational. wie auch, sind doch die meisten kritiker nicht drin.
was juckt sie also? angst!
ihr unterbewußtsein nimmt die macht dieses paradigmenwechsels durch web2.0 gerade an second life am stärksten war und kämpft nun mit dem mittel der wahl.
und das ist angst.
ein freund von mir nannte die idee der virtuellen welten und second life als realität davon im besonderen das "letzte spiel".
und schaut man sich in der scifi-literatur um, so findet man dieses letzte spiel immer wieder. snow crash, diaspora, idoru, sogar star trek *lach*
in meinem "realen" freundeskreis jedoch hat keiner einen rationalen oder überhaupt einen zugang zu sl, emotional aber herrschen irritation und ablehnung vor.
grundwerte der einheit von körper und geist werden mir gegenüber beschworen (ich führte allen ernstes diese diskussion).
faszinierend aber auch die unreflektiertheit der philosophischen komponente bei sl-citizens, müßte hier doch eher ein gespräch möglich sein. doch mit wem ich bisher auch dieses thema anreissen konnte, ein wirklich tiefgehendes gespräch ist noch nicht zustande gekommen.
in den medien sind diese grundsätzlichen fragen, die second life aufwirft und die weiter oben von martin garms angeschnitten wurden, völlig obsolet.
ein jeder berichtet zwar z.b.von sex in second life (man beachte die wertigkeit in entsprechenden diskussionen: auch kritiker stellen ihn de facto mit realem verkehr gleich), doch keiner fragt sich, was denn der reiz ist, polygongrafik beim wackeln zuzusehen.
grundlegende themen, gerade im bereich kommunikation und wie wir über sie funktionieren, tun sich hier auf, die es wert sind, beachtet und erforscht zu werden, um letztlich irgendwo natürlich auch finanziellen nutzen daraus zu ziehen.
leitdiskussionen dazu in den medien? fehlanzeige! wenns hoch kommt, gibt ein rechtsanwalt seine meinung preis, für die er sich so weit aus dem juristischen fenster legt, das selbst einsteins relativität sich newtons schwerkraft beugen müßte.
einen schritt zurückzutreten um einfach mal das ganze wahrzunehmen und versuchen zu begreifen, wie groß es ist - und es ist einfach so irre groß - darin übe ich mich zur zeit.
für mcluhan waren/sind medien erweiterungen unseres ichs. was ist so betrachtet die idee von second life?
ich für meinen teil freue mich wie ein kind vor weihnachten auf die nächsten jahre, denn etwas ganz großes hat begonnen und ich bin stolz dabeizusein.
Posted by: mischa gawronski | Wednesday, 21 March 2007 at 21:14
Gefahren können von einem Online-Spiel per se nicht ausgehen. Gefährlich können höchstens die Nutzer werden und gefährlich sind auch Apologeten wie Markus Breuer, der sich scheinheilig über den Hype beklagt, den er selbst nach Kräften schürt. Da wird jede konkrete Kritik an Second Life mit philosophischen Allgemeinplätzen über die Trillionen von Simulations-Welten vernebelt, die es gibt und geben wird und seinen Consulting-Kunden muss er eine Menge verschweigen, um an ihr Geld zu kommen. Diese Second Life-Lügen sind Bestandteil des Consultings von Markus Breuer:
1. Second Life hat eine ernstzunehmende „economy“ mit Anzeichen einer Volkswirtschaft und der L$ ist zum US$ oder EUR frei konvertierbar
Es fehlt jede Aufsicht, jedes makroökonomische Halteseil, jede Sicherheit. Der Kurs der Monopoly-Währung ist absolut fiktiv. Linden Labs legt ihn fest (nicht die ingame-„Börsen“ *lol*) und wenn Sie mehr als ein paar hundert EUR aus dem Spiel abziehen wollen, machen Sie Verlust. Eine schlagartige Entwertung kann jederzeit ohne Vorwarnung geschehen.
2. Einige hundert Leute können ihren Lebensunterhalt ingame verdienen
(s.o.) In der Vergangenheit haben einige Dutzend Spieler ihren Lebensunterhalt in SL verdient. Dazu gehören die grösseren „Real Estate“ Agents, die Programmierer von Animations-Scripten für Genitalien und eine Handvoll 3D-Designer (Buildings) und Texturenmaler (Skins, Fashion) der ersten Stunde. Der grösste Teil von ihnen hat sich in den letzten Monaten aus dem Spiel zurückgezogen bzw. die Transaktionen auf ECHTE Währungen umgestellt. Von den Erträgen der tausenden Bordelle und Spielcasinos kann niemand leben, schon gar nicht von „Jobs“ *lol* in diesen Lokalitäten oder den Microcent-Stundenlöhnen der selbständigen content designer.
3. Sex und Pornographie gibt es zwar in SL, aber sie spielen nicht die wichtigste Rolle
Es gibt Zigtausende von Plätzen in SL ohne Sex. Nur: Da finden Sie niemanden und abgesehen von gross angekündigten Events findet Sie dort auch niemand. Fast der gesamte Traffic geht rund um die Uhr an Lapdance-Clubs, Bordelle, Casinos und die Treffpunkte der Anhänger von (einvernehmlichen) Gewaltsex und Pädophilie.
Diese sind in Prozentzahlen gemessen wesentlich zahlreicher als im Real Life und ausgesprochen rege. Sie können ihnen an keinem öffentlichen Ort entgehen. Die gesamte inworld definiert sich über virtuellen Sex. Second Life ist ein Durchlauferhitzer für Pädophile und Vergewaltiger, in der sie sich straflos und von verharmlosenden Kommentaren begleitet „aufladen“.
4. Linden Labs gewährt den Nutzern die Besitz- und Eigentumsrechte an allem selbst erstellten content
Solange Sie ingame damit spielen können ja. Wenn der Server runterfährt oder crasht oder Ihre Inventar-Datenbank beschädigt wird, dann nicht. Linden Labs gibt keine Garantie dafür, dass Ihnen der selbst erstellte content zur Verfügung steht. Sie erwerben auch kein Eigentum am teuren Serverspace, genannt „Land“ und erst recht nicht an den physikalischen Servern, auf denen Ihr Sim gespeichert ist. Sie können gern Ihre Repräsentanz für 40.000 EUR aufbauen und einen Mega-Event ankündigen. Wenn irgendein Scriptkiddie Ihren Event zum Absturz bringt und Ihre Insel danach nur mit einem Bruchteil Ihrer Investitionen wieder hochfährt, dann haben Sie halt Pech gehabt.
Das Programm, mit dem sich Ihr mühsam in langen Arbeitsstunden erstellter content per Mausklick kopieren lässt (Copybot), wurde aus dem Umfeld von Linden Labs lanciert und die Reaktion der Firma darauf war: Legt Wasserzeichen auf Eure Texturen! *lol*
SL ist mitnichten eine offene Plattform für die Web2.0-Zusammenarbeit, sondern ein proprietäres System im alleinigen Besitz der Firma Linden Labs und unter ihrer ausschliesslichen Kontrolle.
Und versuchen Sie mal mit einem Anbieter ein Problem zu klären, von dem Sie ingame etwas gekauft haben. Sie kennen den Avatar-Namen, vielleicht sogar eine e-mail-Adresse. Aber Anbieterkennzeichnung, Ust-ID, Impressum, ladungsfähige Anschrift? Vergessen Sie’s.
5. Selbst wenn Sie nichts verkaufen, ist SL ein grossartiger Ort für Geschäftskonferenzen
Annoncieren Sie Ihre Firmeninterna doch gleich im Lokalanzeiger von Bad Salzuflen. Es gibt keinen Bereich, den Sie wirksam vor Mithörern oder Störern schützen können. Für jede Art der Datenspionage in SL werden die entsprechenden Tools angeboten. Jedes Meeting, jeder Event kann von Störern übernommen oder der Porno community ausgenutzt werden.
Ein Meeting in SL ist die grösste Vernichtung von Arbeitsproduktivität, die man sich vorstellen kann. Kommunikation und Interaktion katapultieren Sie zurück ins Postkutschenzeitalter. Sie verbringen locker drei Stunden mit einer Aufgabe, die sie im RL in 30 Minuten geleistet hätten.
6. SL ist ein Massenphänomen und garantiert meiner Marke höchste Kontakte pro Nutzer
Vergessen Sie alle Nutzerzahlen, die Ihnen Linden Labs oder Markus Breuer wahr machen wollen. Mit einer Anzeige im Lokalanzeiger von Bad Salzuflen erreichen Sie mehr, denn bei 40 Avataren auf einem Haufen macht das System schlapp. Und nach Ihrem Event interessiert sich ohnehin keiner mehr für Ihre teure Insel, es sei denn, Sie präsentieren Ihre Marke im Gebäude neben dem Club mit den süssen Kinderavataren.
Das heisst: Halt! Der Hype funktioniert ja trotzdem. Markus Breuer schreibt einen Artikel über Ihren Event im Lokalanzeiger von Bad Salzuflen, in dem er den SPIEGEL-Avatar Sponto zitiert. Den Link schickt er Sponto, der wiederum Markus in seinem Blog verlinkt... daraus zitiert der SPIEGEL, worauf dann Pixelsebi usw.... und so verlinken sich alle Projektleiter gegenseitig, selbst wenn sie im gleichen Büro sitzen und jeder gerade dem anderen sein Projekt verkauft hat. So kann man auch Umsatz für Pixelpark generieren.
7. In SL treffen die deutschen Markenverantwortlichen auf ihre markenaffine, technikaffine Zielgruppe
Absolut wahr. Nur Geld haben die keins. Akademisches Proletariat auf Hartz IV, online 24/7, Ballermann-Feierschweine und Minderjährige auf der Suche nach Abenteuern, die tagelang auf geldspendenden Campingstühlen ausharren, um sich für umgerechnet 3US$ die virtuelle Prostituierte um die Ecke zusammenzusparen.
All dies lässt sich in wenigen Wochen ingame und durch klassische Recherche in Erfahrung bringen. Von Markus Breuer werden Sie das nie hören. Und schon gar nicht das Wort Risiko-Investition.
Posted by: Stefan Renzke | Wednesday, 21 March 2007 at 23:55
@Markus Breuer
Hier geht`s ja ab ;-)
Jetzt trau ich mich auch mal auf dir rumm zu hacken!
In einem weiteren Kommentar zu deinem Beitrag http://notizen.typepad.com/aus_der_provinz/2007/03/neues_whitepape.html
hattest du folgendes geschrieben:
Zitat:
"Ich selbst vermeide es zum Beispiel gerne, von der "Wirklichen Welt" zu reden, weil die anderen ja auch "wirklich" sind - halt nur synthetisch sind. Aber der Begriff Wirklichkeit ist einer, der zu Interpretationen nur so provoziert und den man außer mit philosophisch geschulten Menschen kaum produktiv diskutieren kann. Ich korrigiere deshalb nie andere, die ihn verwenden."
Hm, daraus ergibt sich für mich die Frage wie man generell mit "ungeschulten" Menschen "produktiv diskutiert"?
Posted by: Michael Wald | Thursday, 22 March 2007 at 09:37
Hallo Zusammen,
Ich war ja letztes Jahr auch sehr skeptisch, welche Möglichkeiten SL tatsächlich bietet und bin in dieses "Content-Loch" gefallen, nachdem mich die einschlägigen Sites nicht wirklich ansprechen (die man aber auch ohne Probleme vermeiden kann).
Allerdings haben wir uns in unserem Unternehmen einfach mal hingesetzt und überlegt, was man den eigentlich aus einem 3D-Environment rausholen kann, was eben über die reine Medien-Präsenz der üblichen "Hype-Sites" hinausgeht.
Resultat war eine SIM, in der wir ein reales Business auf die Interaktionsräumlichkeiten reduziert haben ohne die Business Identität oder das CD zu verlieren.
Dabei haben wir also z.B. einen Empfangsraum, Warteraum (mit Informationsmöglichkeit), einen News-Raum, einen Vortragssaal und einen Besprechungsraum geschaffen. Alles interaktiv aber ohne zu viel Gimmicks - das würde die Business-Anwender auch abschrecken.
Raus kam dabei eine SIM, die wir auf der CEBIT auch vorgestellt haben. Dort haben wir auch zweigeteiltes Feedback bekommen - allerdings deutlich mehr Positives als Negatives. Immer wieder wurde betont, dass es endlich eine Präsenz ist, wo man eben auch arbeiten kann - d.h. wir haben der Präsenz einen konkreten Sinn gegeben (was z.B. viele grosse Marken wie MB oder adidas nach meiner Meinung leider verpasst haben).
Auf diese Weise konnten wir sogar das Interesse bei unseren konservativsten Kunden wecken.
Jetzt will ich mal der Werbebranche nicht zu nahe treten (muss es aber leider tun) - man möge es mir verzeihen.... Wir kommen aus dem SW-Businessbereich und arbeiten an Geschäftsprozessen und Effizienz - weniger an Werbewirksamkeit etc. und ich denke das ist ein ganz anderer Ansatz, den auch PA Consulting perfekt verfolgt. SL ist eine wunderbare Plattform für Unternehmen eben eine nähere Zusammenarbeit von Mitarbeitern und mit Kunden zu erreichen und Prozesse und Produkte zeitnaher und kostengünstiger zu testen bzw. validieren.
Aber das ist ein anderer Ansatz, als nur eine schöne Präsenz hinzustellen wie es z.B. Baden Würtemberg gemacht hat. Gestern ging die SIM online und es ist nicht einmal am ersten Tag ein Greeter anwesend, der Leuten auf den Weg hilft? Das ist verkehrt - SL ist ein interaktives Medium und wer hier langfristig Erfolg haben möchte sollte auch für Interaktivität sorgen - sonst ist das Ganze leblos - wie eben adidas seit ewigen Zeiten.
Das Greeter-Prinzip wird ebenfalls von PA Consulting vorgelebt - dort ist meistens ein Greeter anwesend und hilft Kunden, sich im Portfolio des Unternehmens zurecht zufinden.
Jetzt um den Bogen wieder zurück zuspannen... Die Polarisation findet statt, weil das eigentliche Potenzial der Plattform und eines 3D-Internets auf das simpelste reduziert wird - eben auf "Fun"-Präsenzen und Marketing-Präsenzen - SL kann aber mehr und das wird der langfristige Nutzen sein. Wenn das endlich transportiert wird, dann werden auch die Vorbehalte abnehmen.
Übrigens arbeiten wir in der Regel an einem SL-Projekt von verteilten Standorten aus mit Kommunikation über Second Talk und das ist sehr effektiv, weil wir neben der Sprache auch das Gleiche sehen können (gleiches funktioniert auch mit Präsentationen).
Ich werde auf meinem Blog www.virtuelle-gedanken.de mal das Business-Thema nach und nach aufgreifen - auf Feedback bin ich dann natürlich auch gespannt.
PS:
Und der Faktor Angst spielt eine grosse Rolle in der Abneigung... viele Menschen haben den Sprung noch nicht ins Zeitalter Web 2.0 geschafft und sind mit den Möglichkeiten von Web 3.0 dadurch völlig überfordert (Gleiches haben wir übrigens auch schon vor 5 Jahren mit "virtuellen Teamräumen" wie eRoom erlebt - den Schritt wollten damals auch schon viele Leute nicht mehr mitgehen) - daher dann auch die Abneigung und Reduzierung auf publizistische Boulevard-Argumente.
Und das Argumenbt mit gespalteten Persönlichkeiten etc... das gab es schon in der ersten Phase der Chatrooms - da haben sich auch genug Leute eine Alt-Persönlichkeit angelegt und gelebt.
Und wegen der Rechtsübertretungen - da wird sich ein Handlungsbedarf ergeben. Interessanterweise hat das aber auch jeder Cyberpunk-Autor vorhergesehen und da auch eine Art "Polizei" vorhergesehen - das wird noch kommen.
Und die diversen Sexualpraktiken finden unter den Avataren statt, die so etwas auch möchten - wer es nicht will soll die Plätze meiden - vor Allem nachdem es da ja jetzt auch eine eindeutige rechtliche Stellungnahme gab und eine Verfolgung von Straftaten in diesem Bereich konkret angedroht wurden.
Posted by: Michael Rohrmueller | Thursday, 22 March 2007 at 11:33
Ein anderer möglicher Grund für die emotionale Debatte:
Wer braucht eigentlich ein "Second Life", wenn er schon ein erstes/richtiges/reales Leben hat ?
Man könnte SL auch so sehen:
Nichts als ein grosses Computer/Online-Spiel, für eben diejenigen die solche Spiele toll finden - nur mit dem Unterschied, dass der Hype suggerieren soll, diesmal wäre es auch wichtig, dass man als Nicht-Stubenhocker dabei ist.
Ich sag euch mal, warum SL für mich auf Dauer nicht wichtig sein wird:
Weil ich mir sicher sein kann, dass die wirklich wichtigen Dinge immer noch und jederzeit ausserhalb dieses Comuterspiels passieren/entschieden/besprochen werden.
Iss ja nett, dass jetzt diverse Unternehmen ihre Filialen in SL haben - aber warum sollte ich per Avatar mit denen was besprechen, wenn ich es auch jederzeit per Telefon/email/Chat/IM tun kann ?
Posted by: Frank | Thursday, 22 March 2007 at 11:54
P.S.
Hierzu noch ein passender Link zum First Life:
http://www.getafirstlife.com/
:)
Posted by: Frank | Thursday, 22 March 2007 at 11:56
es ist die angst, dass das second life tatsächlich eines tages das first life ablöst. bei nicht ganz so technikverliebten löst das ein äußerst flaues gefühl im magen aus...
vom affen zum menschen, vom menschen zum avatar. wir haben es mit einem essenziellen identitätsproblem zu tun.
Posted by: Peter | Thursday, 22 March 2007 at 22:29