Second Life ist ein schönes Beispiel für den Gartner-Hype-Cycle. Dieser ist ein plausibles Erklärungsmodell für den medialen Hype, der oft mit neuen Technologien einher geht. Erst Riesenbegeisterung vor allem auch in der schreibenden Zunft, der Aufbau einer manchmal geradezu messianisch anmutenden Heilserwartung, dann der rapide Absturz und nach der Ernüchterung dann schließlich ein realistischer Umgang mit den Möglichkeiten und Grenzen. (Mehr dazu siehe hier.) Nach einer ungeheuren medialen Aufmerksamkeit in den vergangenen Monaten scheint Second Life nun den "Peak of inflated Experiences" im Gartner-Modell, den Gipfel der überzogenen Erwartungen erreicht zu haben.
Dies ist unschwer daran zu erkennen, dass nach vowiegend positiven - und schlecht recherchierten - Berichten in der Presse nun die Verrisse (meist ebenso schlecht recherchiert) folgen. Der Werberpostille W&V (Werben und Verkaufen) war ein solcher Verriss diese Woche sogar den Titel wert. Ich fand das - obwohl überzeugter Evangelist virtueller Welten - ganz amüsant; weil es auf einleuchtende Weise einen Mechanismus des Hype-Cycles illustriert.
Was amüsant an diesem Artikel ist (und typisch für den Gipfel im Hype-Cycle-Modell), ist die Tatsache, dass der Autor vor allem solche "Vorzüge" von Second Life widerlegt, deren Existenz zuvor niemand behauptet hat. So kritisiert er die geringe Reichweite im Vergleich zu Massenmedien und die Tatsache, dass keine persönlichen Daten zu den Anwendern verfügbar sind. Beides stimmt - kein ernst zu nehmender Experte hat aber jemals behauptet, dass das Stärken von Second Life wären oder darauf eine Vorteilsargumentation aufgebaut. Sollte tatsächlich eine Agentur ein Second Life Projekt für eine reichweitenorientierte Kampagne empfohlen haben und den Erfolg des Projektes mit Visits, Views oder Kontakten messen wollen, so wäre das ganz ganz schlechte Beratung. Second Life hat weltweit 0,5 - 1,0 Millionen aktive Benutzer (je nachdem, wie man es messen möchte). Das ist in absoluten Zahlen nicht schlecht, aber im Vergleich zu anderen Medien ein Klacks.
Kritiker virtueller Welten werden nicht müde, diese relativ geringen Anwenderzahlen immer wieder als sensationelle Neuigkeit zu verkünden - sie sind aber gar nicht sensationell, weil jedem bekannt, der mehr als einen Stern-Artikel zum Thema liest. Putzig wird der Autor des Artikels allerdings, wenn er ernsthaft von nur wenigen 10.000 Anwendern spricht- Der Rest wären Journalisten und Firmenvertreter auf der Suche nach Kunden. Na ja, Übertreibung ist nun mal ein legitimes Mittel der journalistischen Arbeit. ;)
Und die beklagte Anonymität der Anwender ist ein wesentliches Merkmal und tatsächlich ein entscheidender Erfolgstreiber in manchen Projekten (wenn auch lästig in anderen). Sie ist tatsächlich inzwischen ein schwindendes Phänomen. Über kurz oder lang werden Avatare so anonym sein wie Anwender im Internet: "recht" anonym, wenn sie Wert darauf legen. Eher transparent, sobald man ihnen entsprechende Vorteile für die Aufgabe der Anonymität bietet. Alles Entwicklungen, die das World Wide Web in den letzten 12 Jahren schon einmal durchgespielt hat.
Aktuell haben virtuelle Welten aber weder die Reichweiten des Fernsehens oder des Internets, noch die ausgeklügelten Tracking-, Analyse- und CRM-Tools. Und es gibt eine ganze Handvoll weiterer Schwächen. Für viele Anwendungen sind klassische Kommunikatonsmedien - und auch das klassische Internet - noch deutlich effizienter. Na und? Sind Hamburger schlechteres Fastfood als Currywürste? Ist das Internet ein schlechterer Katalog als ein gedruckter Wälzer. Wohl kaum - jedoch anders.
Aber es dauert halt immer eine Weile, bis sich die Mehrzahl der Leute an etwas "Anderes" gewöhnt hat und aufhört, es mit den Begriffen des "Bekannt/Vertrauten" verstehen zu wollen.
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Hallo, danke das es jemand mal so dargestellt hat. (Positive, grins)
TJ Ay
Posted by: TJ Ay | Friday, 04 May 2007 at 10:06
Wieder einmal wunderbar auf den Punkt gebracht. Anscheinend gehört das Bashing nach einer gewissen Zeit einfach dazu. Allerdings finde ich es schade, dass ein anderer w&v-Autor erst vor kurzem "Das Ende des Blogging-Wahns" verkündetete und kurzerhand Second Life als the next big thing ausrief. Besonders analytisch war der Text ebenfalls nicht und sachlich in vielen Punkten widerlegbar. Orientierung sieht eigentlich anders aus. Wenn wir überall nur alles in die virtuelle Tonne treten, frage ich mich jedoch, wo der "Anfang von etwas Neuem" bleibt. Schade, dass es vielen Journalisten an Perspektiven fehlt...
Posted by: Klaus Eck | Friday, 04 May 2007 at 14:14
Dieses Verhaltensmuster, insbesondere in der Presse zu finden, ist der wesentliche Treiber des Hype-Cycle-Phänomens: Die Blätter brauchen jeden Tag (oder jede Woche) etwas NEUES. EXTRA! EXTRA! SONDERAUSGABE! EXKLUSIV! um es mal übertrieben zu sagen. Ist es bei einem Thema nicht möglich, ständig wieder etwas draufzulegen, ist es "bööööh ... langweilig". Deswegen sind Promis oder in den Fachzeitschriften eben der Branchentratsch über "Persönlichkeiten" so beliebt. Hier passiert immer "Neues" (?).
Der Drang zur plakativen Vereinfachung drängt die Kollegen zudem dazu, positive wie negative Sensationen zu verkünden. Zwischentöne sind langweilig. Deswegen ist alles Berichtenswerte "Innovation", "bahnbrechend", die Lösung für die Probleme der Welt ... oder eben total Banane. Differenzierende Betrachtungen sind nicht knackig genug für Headline und Titelmotiv :)
Diese Zwänge des Journalistenlebens sind die Treiber des Hype-Cycles - der deshalb weder im Positiven wie im Negativen jemals etwas mit der seriösen Bewertung einer Entwicklung zu tun haben KANN. (Anmerkung am Rande: als nach 2001 alle Welt eCommerce totgeschrieben hat, haben sich beharrlich die Player nach vorner gearbeitet, die heute das große Geschäft damit machen.)
Posted by: Markus Breuer | Friday, 04 May 2007 at 14:32
Es könnte natürlich auch die Möglichkeit geben, dass es sich nicht nur um eine Phase des Hype-Cycle Phänomens handelt, sondern dass das Modell "Business in Second Life" tatsächlich weitestgehend sinnlos ist.
Bzw es sich bei SL letzendlich für die meisten Leute eben um doch nicht mehr als ein ganz nettes Onlinespiel handelt, nicht mehr.
Meine Prognose: Der Hype wird sich insofern beruhigen, als dass man bald erkennen wird, dass Virtuelle Welten in erster Linie interessant sind für typische Onlinegamer und evtl. als spezifisch angepasste Technologie für Nischenbereiche, z.b. Architektur.
Und Second Life wird das bleiben, was es immer schon war: Ein Spiel.
Posted by: Frank | Friday, 04 May 2007 at 20:18
>> Es könnte natürlich auch die Möglichkeit geben,
>> dass es sich nicht nur um eine Phase des
>> Hype-Cycle Phänomens handelt, sondern dass das
>> Modell "Business in Second Life" tatsächlich
>> weitestgehend sinnlos ist.
Selbstverständlich gibt es diese Möglichkeit. Das ist aber kein Widerspruch zum Hype-Cycle-Modell sondern notwendger Bestandteil dieses Modells. Nicht jede Innovation MUSS ja ein dauerhafter Erfolg sein. BTW: Es lohnt sich wirklich, die Definition nachzulesen und nicht immer nur mit dem Wort "Hype" in wertender Manier zu arbeiten. :)
(Man mag mir bitte verzeihen, wenn ich ein Versinken in der Bedeutungslosigkeit im Falle der Grundprinzipien Virtueller Welten - nicht identisch mit "Second Life" - aber für sehr unwahrscheinlich halte.)
Ansonsten ein dickes Dankeschön für diesen Kommentar, da er mir Gelegenheit gibt, auf ein weiteres Missverständnis einzugehen: "nicht mehr als ein ... Onlinespiel"
"Spiele" abschätzig als Kinderkram zu bewerten, ist ein bedauernswerter Aspekt konservativ/puritanisch geprägter Weltsicht. Tatsächlich sind Spiele im weiteren Sinne (1) eine gewaltige Industrie (2) einer der wichtigsten kulturprägenden Faktoren für die Menschheit als Ganzes. "Spiel" ist der Mechanismus, über den Primaten einen Großteil der Fertigkeiten erlernen, die sie für ihr physisches und psychisches Überleben benötigen. Das ist kein Phänomen der Kindheit. Wer aufhört zu lernen (zu spielen, zu experimentieren), hört auf, sich weiter zu entwickeln. Schade drum ...
Posted by: Markus Breuer (Pham Neutra) | Saturday, 05 May 2007 at 12:36
Na ja - leider wird in Deutschland das Thema Spiele immer noch belächelt...
Aber wenn man sich dann die Werte der Bitkom anschaut, sieht man erstmal, welcher Markt da schon vorhanden ist:
Der Handy- und Spiele-Weltmarkt ist 2006 um 43 Prozent auf sechs Milliarden Euro gewachsen
Alleine die Deutschen laden sich jährlich 15 Millionen Spiele auf ihre Handys
Der Umsatz mit Spielen ist mittlerweile anscheinend höher als der Umsatz mit Kinofilmen und kostet bedeutend weniger (ein MMORPG kostet im Schnitt 20 Mio € an Entwicklungskosten - dafür kann man keinen Film mehr machen).
Posted by: Michael Rohrmueller | Saturday, 05 May 2007 at 23:04
Im Zusammenhang stimme ich meinen beiden Vorschreibern zu. Nur mit dem Wort "Spiel" kann ich mich trotzdem nicht anfreunden. Ich habe dort nun meine erste Fotoausstellung auf die Beine gestellt. Das war viel Arbeit aber ist insgesamt eine verdammt interessante Erfahrung, seine Werke (RL Fotografien) in einer virtuellen, in einer künstlichen Umgebung zu sehen. Ich könnte mich im Zusammenhang mit SL gern mit dem Begriff "Experiment" anfreunden, aber für ein Spiel ist es mir dann doch mit zuviel Arbeit verbunden ;)
Bei dem Aufbau der Fotoausstellung ist mir immer wieder der Gedanke gekommen, das es eigentlich gar nicht so weit von dem Prozess der Erstellung einer zweidimendionalen Webseite entfernt ist. Auch da kann der Besucher am Ende meine Fotos betrachten, und auch die könnte ich mit einem wysiwyg Editor relaitv simpel und optisch nachvollziehbar erstellen. Also müsste nach Frank's Definition und meiner Erkenntis im Endergebnis das klassische Internet mit all seinen Anwendungen auch "nur" ein Spiel sein!?!?
Posted by: Vin Tomsen | Sunday, 06 May 2007 at 20:12
Ich frage mich doch, was Journalisten denn so als ihre Aufgabe sehen? Gut recherchierte Artikel mit fundierten Ergebnissen wohl leider nicht.
Ansonsten ein wie immer guter Artikel :-)
Allerdings solltest Du mehr den Untergang der klassischen Medienlandschaft prognostizieren, am besten mit einem Untertitel a la "Ende einer Party".
@Vin: Der Unterschied ist bei SL natürlich, dass sich in der SL-Fotoausstellung die Zuschauer wirklich treffen können und auf der Website nicht so wirklich. Dann lieber Spiel statt "Ernst" ;-)
Posted by: Christian Scholz | Monday, 07 May 2007 at 00:56
Gerade hat es sich mal wieder auf ARD bestätigt, die mediale Ausschlachtung der Todgeweihten hat begonnen.
http://www.swr.de/report/presse/-/id=1197424/nid=1197424/did=2146960/1ehhkmz/index.html
Nach der Einschätzung des Moderators, sind wohl alle potenziell mal irgendwie komisch. Und es sind schon 6 Millionen! Demnach müsste das Internet schon seit Jahrzehnten nicht mehr existieren. Mal sehen was den Medien als nächstes einfällt.
Posted by: Vin Tomsen | Monday, 07 May 2007 at 22:05
Die "sensationelle Enthüllung", dass es Formen der Kinderpornografie in Second Life gibt, ist ungefähr so sensationell wie "Im Internet gibt es kinderpornografische Darstellungen". Aber gewisse Spielarten des Journalismus brauchen Sensationen - und das Volk liebt Sensationen.
... Und wenn es keine echten Sensationen gibt, dann back ich mir eben welche. Ist im Grunde der selbe Mechanismus, wie der, der die zweite Phase des Hype-Cycles treibt. Solche Berichte (und die Art, wie sie weiter getragen werden) sagen eigentlich mehr über die Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie als über das Internet (oder virtuelle Welten).
Posted by: Markus Breuer (Pham Neutra) | Tuesday, 08 May 2007 at 05:06
Habe ich gerade bekommen. Auch diese Publikation bestätigt die beobachtete Trendwende in der publizistischen Auseinandersetzung mit dem Thema SL. Wer was zu sagen hat und trendig sein will, sollte jetzt auf dem Zug aufspringen und anhand von an den Haaren herbeigezogenen Behauptungen beweisen das diese ja nicht wahr sind und damit beweisen das SL bestenfalls ein Schneeballsystem ist. Im Endeffekt beweist es nur einmal mehr, das die Leute, welche damals in der Berichterstattung so übertrieben haben und nun schlecht reden, offensichtlich nicht wirklich viel Zeit in SL verbracht (ergo nicht wirklich recherchiert) haben. Amüsant ist es allemal:
http://alvar.a-blast.org/vortraege/webmontag/second-life/
Posted by: Vin Tomsen | Monday, 14 May 2007 at 16:32