Es ist schon putzig: Da hat der Bundestag vor vier oder Jahren tatendurstig das Internet entdeckt, und das total innovative Werkzeug der Online-Petition eingerichtet und nun beginnen die Leute auf einmal tatsächlich, diese Möglichkeit zu nutzen. Nur leider die falschen :( Da ist es klar, das etwas passieren muss.
Aber erst einmal zur Chronologie: 2005 eröffnete auf Bundestag.de offiziell das Portal https://epetitionen.bundestag.de/ seine Pforten. Hier konnten die deutschen Bürger fortan online tun, was bislang ein recht umständlicher schriftlicher Prozess war: eine Petition beim Bundestag einreichen und dann "Mitzeichner" einwerben. (Mehr dazu in der Wikipedia.) Lange Zeit ging das gut. Die meisten Online-Petitionen haben zwischen eoin paar Dutzend bis ein paar Tauend Mitzeichnern und sind damit harmlos. Der Bürger kann sich auskotzen und die offizielle Politik kann es ignorieren. Die erfolgreichste Petition war lange Zeit "Halbierung der Mineralölsteuer" ;-) Klar, "Freibier für alle" findet viele Unterstützer.
Die Lage änderte sich auf einmal in 2009. Eine Petition als Reaktion auf Ursula von der Leyens populistischen Gesetzesvorstoß zur "Zugangserschwerung (sic) bei Seiten mit kinderpornografischen Darstellungen" erreichte innerhalb von wenigen Tage die Zahl von 50.000 Mitzeichnern. Das hatte es nie zuvor gegeben. Am Ende waren es mehr als 130.000 Mitzeichner - was online und offline bislang einzigartig ist.
Seitdem scheint ein Damm gebrochen: Eine ganze Reihe neuer Online-Petitionen - die meisten aus dem Web-Umfeld - erreichte innerhalb jeweils kurzer Zeit die notwendige Schallmauer von 50.000 Mitzeichnern, ab der sich der Bundestag mit dem Thema beschäftigen muss - "beschäftigen" wohlgemerkt, nicht "dem Wunsch dieser Bürger entsprechen".
Selbst das scheint aber zu viel verlangt zu sein. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) bewertete die Möglichkeit zu Online-Petitionen "kritisch":
Es sei sehr einfach, mit einem Klick seine Unterstützung für ein Thema kundzutun. Dies lasse nicht unbedingt einen Rückschluss auf die Bedeutung solcher Themen in der Öffentlichkeit zu.
Bitte? Als Mitzeichner muss ich nicht nur "klicken" sondern mich durch eine ganze Reihe von Seiten arbeiten und u.a. auch meine persönlichen Daten angeben, was bei der Server-Performance nicht unbedingt die reine Freude ist. Das Unterzeichnen einer Unterschriftenliste in der Einkaufszone ist bequemer - und von der CDU in diversen Wahlkämpfen gerne praktiziert worden. Und das Kreuzchen auf dem Wahlzettel ist auch nicht wirklich "schwer" ... Sind auch diese Willens- oder Meinungsbekundungen der Bürger "unbedeutend" - oder nur dann, wenn die falsche Meinung vertreten wird?
Herr Lammert ist mit dieser Meinung leider nicht allein (seine Partei auch nicht). Mathias Güldner (Fraktionsvorsitzender Die Grünen in der Bremer Bürgerschaft) dazu in der WELT:
[...] Es geht vielmehr knallhart um Definitionsmacht in Zeiten der Virtualisierung der Welt. Ihre Anhänger kämpfen mit hoch effektiven Mitteln für die Rechtsfreiheit ihres Raumes. Wer sich in ihre Scheinwelt einmischen will, wird mit Massenpetitionen per Mausklick weggebissen.
...
Wer Ego-Shooter für Unterhaltung, Facebook für reales Leben, wer Twitter für reale Politik hält, scheint davon auszugehen, dass [...]
Was mich an Äußerungen wie diesen - neben einem Gefühl der persönlichen Beleidigung - so nachdenklich stimmt, ist die Befürchtung, dass diese Grundhaltung symptomatisch für die politische Klasse ist. Bürgeräußerungen (oder auch Wahlergebnisse) für irrelevant zu erklären, wenn sie einem nicht passen, ist nichts Neues :) Unvertraute Aspekte der Jugendkultur für überflüssig und abstossend zu halten ("laute Negermusik" ...) auch nicht.
Einen beachtlichen, rasch wachsenden Teil der Bevölkerung - nicht gerade den finanzschwächsten und einflußlosesten sollte man vielleicht anmerken - aktiv auszuschließen und sie für die Beteiligung an der politischen Meinungsbildung mehr oder weniger als unmündig zu erklären, ist aber zumindest unklug. Und es öffnet Splittergruppen und radikalen Randerscheinungen im Politikspektrum Tür und Tor. Noch nie im meinem Erwachsenendasein habe ich ernsthaft erwogen, bei Wahlen eine Proteststimme abzugeben. Dieses Jahr denke ich ernsthaft darüber nach, die Piratenpartei zu wählen ...
Ich denke, es ist nicht die Netz-Community, die in einer "Scheinwelt" lebt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: einige (viele?) Player in der etablierten Politik-Community leben in einer virtuellen Welt, in der die letzten bedeutenden Neuerungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation Fax und Mobiltelefon waren. Die ganz reale (digital unterstützte) Welt vieler Bürger ist ihnen fremd und macht ihnen Angst. Keine guten Voraussetzungen für die deutsche Politik in den nächsten Jahren ...
Posted via email from _notizen
"Eine Petition als Reaktion auf Ursula von der Leyens populistischen Gesetzesvorstoß zur "Zugangserschwerung (sic) bei Seiten mit kinderpornografischen Darstellungen" erreichte innerhalb von wenigen Tage die Zahl von 50.000 Mitzeichnern. Das hatte es nie zuvor gegeben. Am Ende waren es mehr als 130.000 Mitzeichner - was online und offline bislang einzigartig ist."
Das stimmt nicht so ganz. Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Online-Petition#Petitionen_mit_hoher_Mitzeichnerzahl
Es gab zuvor also mindestens 3 Petitionen, die 50.000 Mitzeichner fanden. Alter Spitzenreiter war eine (offenbar von "Bild" und ADAC massiv unterstützte) Petition zur „Halbierung der Besteuerung von Diesel und Benzin“ mit 128.193 Mitzeichner im Juni 2008.
Interessant wäre vielleicht noch ein Vergleich mit der Petition "Einführung von Wahlmaschinen", die es bereits im Herbst 2006 auf 45.127 Mitzeichner brachte. Dort würde ich den Startpunkt setzen.
Posted by: jo | Monday, 17 August 2009 at 21:33
War unpräzise formuliert. Sorry. Bitte auf das
> "erreichte innerhalb von wenigen Tagen"
achten. :) Die 50.000 Mitzeichner wurden tatsächlich in weniger als 5 Tagen erreicht. Das ist Rekord!
"Halbierung der Besteuerung ..." aka "Freibier für Alle" hatte ich auch erwähnt. Ich denke ernsthaft darüber nach, eine Petition "Konsequente Halbierung der Einkommensteuer" nach. Hätte bestimmt auch Riesenerfolg. ;-)
Posted by: Markus Breuer (Pham Neutra) | Tuesday, 18 August 2009 at 09:00