Foto: dpa
Die Erkenntnis, dass das Web - insbesondere in seiner neuesten Darreichungsform des Social Webs - etwas ist, das unsere Gesellschaft nachhaltig verändern wird, ist für die Digital Natives unter uns nicht wirklich etwas Überraschendes oder auch nur Neues. Inzwischen beginnt sich dieser Erkenntnis jedoch langsam aber sicher auch außerhalb der eher geekigen Kreise durchzusetzen. Das ist neu. Bis vor wenigen Monaten nahm die etablierte Elite - insbesondere die "kulturelle" - das Web zwar teils wohlwollend, teils ängstlich ablehnend zu Kenntnis. Wortmeldungen der üblichen Verdächtigen beschränkten sich aber entweder auf arrogante Festellungen der "Tatsache", dass die digitale Kommunikation in erster Line eine Verrohung der Sitten ist ("nichts kann das persönliche Gespräch bzw. den handgeschriebenen Brief auf Büttenpapier ersetzen") oder zumindest bekämpft werden muss, um hochstehende Kulturgüter zu retten.
Ob sich diese Grundhaltung und emotionale Bewertung geändert hat, kann ich persönlich nicht beurteilen. Aber zumindest schein dem einen oder anderen Leitintellektuellen langsam aufzugehen, dass
- die Uhr nicht mehr vor das Internet zurück gedreht werden kann
- das Web zu einem tiefgreifenden Wandel nicht nur im Geschäftsleben sondern auch in Kultur und gesellschaftlichen Zusammenleben führt
- das alles nicht nur schlechte Seiten hat
Untrügliches Zeichen dafür ist meines Erachtens die Tatsache, dass jemand wie Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ und unbedachten Early-Adopter-Tums völlig unverdächtig, ein Buch zu diesem Thema verfasst und das in einem Spiegel Beitrag und einer Talkshow-Tournee vermarktet. Wenige Tage später ist wieder auf Spiegel Online ein Essay von Stefan Münker, Suhrkamp-Autor und ZDF-Redakteur, zum Thema Soziale Netzwerke zu finden, welches diese nicht mehr - oh Wunder - pauschal als unmenschlich oder "virtuell" verteufelt. Stattdessen konstatiert er in guter 68er Stil (und predigt praktisch Auszüge aus dem Clue Train Manifesto):
Erst jetzt, und auch nur mit den Web-2.0-Anwendungen, wird die massenhaft verbreitete Nutzung gemeinschaftlich geteilter interaktiver Medien zum ersten Mal Wirklichkeit; die kollaborativen Projekte seiner Sozialen Medien realisieren eine Praxis der partizipatorischen Mediennutzung, die zumeist überraschend effizient und dabei fast immer demokratischer ist, als wir es von früheren Medien gewohnt sind.
Schirrmacher und die Payback-Welle
Die große Welle hat natürlich Schirrmacher, Leitwolf der Rechtsintellektuellen in Deutschland, gemacht, unter anderem, weil er sein neues Werk kurz darauf in allen üblichen Schwatzsendungen im öffentlich-rechtlichen und privaten TV präsentieren durfte. Und ausnahmsweise finde ich seine Ausführungen interessant - zumindest die im Text; die Interviewauszüge, die ich dazu gelesen habe, waren gar zu einseitig und populistisch.
Schirrmacher beginnt zwar mit der nicht unüblichen (und nicht unberechtigten Klage) über Information Overload (der Spiegel-Beitrag heißt ja nicht von ungeführ "Mein Kopf kommt nicht mehr mit": Mir scheint, dass viele Leute gerade merken, welchen Preis wir zahlen. Buchstäblich. Ich bin unkonzentriert, vergesslich, und mein Hirn gibt jeder Ablenkung nach. Ich lebe ständig mit dem Gefühl, eine Information zu versäumen oder zu vergessen. Und das Schlimmste: Ich weiß noch nicht einmal, ob das, was ich weiß, wichtig ist oder das, was ich vergessen habe, unwichtig.
Kurzum: Ich werde aufgefressen.
Danach schließen sich aber einige Überlegungen an, die ich bedenkenswert finde. Ich muss zugeben, dass ich das von einem konservativen Knochen wie Schirrmacher nicht erwartet hätte. Aber der Mann ist zwar konservativ zugleich jedoch hochintelligent. Deshalb wird auch ihm klar:
Die Informationsexplosion wird unser Gedächtnis, unsere Aufmerksamkeit und unsere geistigen Fähigkeiten verändern, unser Gehirn physisch verändern, vergleichbar nur den Muskel- und Körperveränderungen der Menschen im Zeitalter der industriellen Revolution. Kein Mensch kann sich diesem Wandel entziehen. Aber das sind nur Vorbereitungen auf einen ungleich größeren Wandel.Das ist so. Und keine Bestandsschutzgesetze werden das verhindern können. Auch nicht, wenn wir es als beängstigend und unbequem empfinden. Es wird passieren. Es zu beklagen oder zu bekämpfen ist verständlich aber wenig Erfolg versprechend - auch, weil diese Revolution die Ansätze zur Bewältigung der durch sie verursachten Probleme schon in sich trägt.
Schirrmachers Buch und Marketing-Tournee hat selbstverständlich einen enormen Backlash unter den Digiterati in Deutschland verursacht. Siehe unter anderem in der Süddeutschen und wieder bei Spiegel Online.) Süffisant bis aggressiv wirft man ihm vor, das ganze Thema (1) nicht verstanden zu haben, (2) nicht verstehen zu können, weil er nicht mitmacht, sondern nur von außen zusieht und (3) von sich auf andere zu schließen. Stimmt vermutlich, aber ...
Damit ist er nicht allein!
Wo Schirrmacher weiter ist als seine Fans und Gegner erkennen
Menschen lieben es nicht wirklich, sich mit Neuem auseinanderzusetzen (zumindest nicht viele). Und wenn dieses Neue ihnen zudem noch unangenehme Gefühle verursacht (und das tun die Ausdrucksformen des Social Web bei Vielen), neigen sie dazu, mit Ablehnung zu reagieren. Je nach Persönlichkeitsprofil finden sie es entweder doof und überflüssig oder gemeingefährlich. Beide Sichtweisen waren und sind in der öffentlichen Diskussion zu finden. Schirrmacher ist einen Schritt weiter: ihm gefällt nicht, was passiert, aber er akzeptiert es als quasi unvermeidlich und fragt sich, wie aus dieser Entwicklung Positives werden kann.
Aber im Internet und den digitalen Technologien steckt auch eine gewaltige Chance. Denn es gibt einen Ausweg, der selten so gangbar schien wie heute: Die Perfektion der entstehenden Systeme hilft uns nur, wenn wir uns erlauben, weniger perfekt zu sein, ja aus unserem Mangel und unserer Unvollständigkeit etwas zu stärken, was Computer nicht haben und worum sie uns beneiden müssten: Kreativität, Toleranz und Geistesgegenwart.
Wie Schirrmacher selbst es schreibt - und ich erspare mir detaillierte Zitate - können Computer - insbesondere Computer, die über das Netzwerk miteinander verknüpft sind, viele Dinge einfach besser, als Menschen. Wir müssen das nur akzeptieren, uns auf diese Unterstützung einlassen und beginnen, eine Gesellschaft zu errichten, in der noch mehr Menschen als Heute diese Unterstützung noch mehr als Heute zu ihrem Vorteil nutzen und ihren Stolz und ihr Selbstbewußtsein nicht aus Fähigkeiten ziehen, die für kleines Geld Jedem zur Verfügung stehen.
Das aber ist ein echter Paradigmenwechsel.
Es ist schade, das diese Perspektive, die Schirrmacher durchaus wichtig ist, in der aktuellen Diskussion um sein Buch nahezu untergeht. Die Einen ergötzen sich lediglich am digitalen Grauen, das angeblich auf uns zu kommt und beklagen in alter Manier den Untergang des Abendlands (also, dass Amazon weiß, dass sie mal erotische Literatur gekauft haben). Die Anderen reagieren aggressiv, weil da jemand ihre Kultur von Transparenz und digitalem Aktivismus nicht "mag" und deshalb bekämpft werden muss. Schade ...
Posted via email from _notizen
Recent Comments