Im Laufe der Zeit, in der ich Twitter nutze, habe ich zweimal Drohbriefe per Email erhalten, der Form
In letzter Zeit twitterst Du ständig <dieses und jenes>. Das finde ich total doof. Das interessiert mich nicht und es müllt mir meinen Bildschirm zu. Entweder Du hörst damit auf, oder ich folge Dir nicht mehr.
Worum genau es beim ersten Mal ging, weiß ich gar nicht mehr. Der jüngste Anlass war aber Foursquare (siehe auch hier) und die automatisch generierten Statusposts. Die sind wirklich nicht besonders spannend und ich produziere momentan täglich so vier bis sechs im Schnitt. Aber ... so what? Die logische Antwort auf einer solche Email kann eigentlich nur lauten: "nur zu!"
Denn das ist ja eine der wunderbaren Innovationen von Twitter: das asymetrische Be-Frienden. Ich kann jemandem "folgen" (seine Status-Updates empfangen), ohne, dass dieser jemand gezwungen ist, mir zu folgen. Und umgekehrt kann mir jemand folgen, ohne, dass ich genötigt bin, das "zurück zu geben". Tatsächlich folge ich nur etwa einem Drittel meiner Follower und habe nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei. Trotzdem hat mich diese jüngste Email zum Nachdenken gebracht.
Denn, was solche Drohbriefe und die offenbar dahinter liegenden Emotionen dokumentieren, ist ein grundsätzlicher Aspekt von Social-Media-Plattformen und unserer Befähigung, damit umzugehen:
Wer sich genervt fühlt, weil in einem Stream oder Feed vieles steht, was ihn nicht interessiert, dem fehlt die vielleicht wichtigste Grundfertigkeit (oder "Fähigkeit"?) beim Umgang mit Social Media: das "ignorieren-können".
Was ich damit meine, lässt sich vielleicht durch folgende Statistik illustrieren: Von den Tweets, die die Leute generieren, denen ich folge, nehme ich höchstens 40% - 50% wahr. Vermutlich eher weniger. Das liegt daran, dass ich nur zu gewissen Zeiten Lust habe, mich mit der Twitter-Sphäre zu beschäftigen und manchmal tagelang wenig dazu komme. Mehr als 95% von diesen 50% der Tweets, die ich wahrnehmen könnte, interessieren mich nicht die Bohne. Dazu gehören - ich gebe es zu - auch ganz viele Status-Posts aus Farmville, Mafia Wars und ähnlichen Applikationen. Aber auch an der überwiegenden Mehrzahl der manuellen Tweets habe ich wenig tiefergehendes Interesse. Ich lese sie nicht einmal bewusst und von denen, die ich aufgrund des Autors oder wegen eines Schlagworts doch überfliege, vergesse ich fast alle sofort. Höchstens ein, vielleicht zwei Prozent der Tweets, die vorbei rauschen, dringen überhaupt in mein bewusstes Denken ein.
Bin ich also oberflächlich und ignorant? Ja! ;-) Denn ohne diese selektiv eingesetzten Fähigkeiten könnte ich im Social Web nicht überleben.
Wenn ich 99% der hier dargebotenen Info-Häppchen nicht unaufwendig ignorieren könnte, müsste ich die Finger von Twitter lassen - und von Facebook, von RSS-Feeds, Foren etc. Denn dann würde die Beschäftigung mit diesen Kommunikationsplattformen entweder zu viel meiner Zeit in Anspruch nehmen oder mich ständigem Stress aussetzen - dem Stress, vielleicht etwas wichtiges verpasst zu haben.
Das ist im Grunde genau das Problem, dass Frank Schirrmacher mit Social Media hat und das er in Payback beklagt - ein Problem, das er mit weiten Teilen der älteren Generationen teilt: diese Menschen haben es gelernt, das die Informationen in einem bestimmten klassischen Medium wichtig sind und dass es Nachteile bringen kann, sie zu übersehen. Nicht, dass diese Menschen eine ZEIT oder einen Spiegel jede Woche, FAZ, FT, Handelsblatt und Süddeutsche jeden Tag vollständig lesen würden. Aber einige von ihnen durchblättern diese Publikationen typischerweise von vorne bis hinten, und wenn ihnen eine Headline ins Auge fällt, lesen sie den Artikel oder reißen in vielleicht raus und legen ihn zur späteren Lektüre beiseite.
Das geht im Zeitalter von Online-Medien nicht mehr! Es ist unmöglich, alle Informationen auch nur wahrzunehmen, die eventuell wichtig für mich sein könnten. Ich kann es physisch nicht einmal schaffen, schnell alle Headlines quer zu lesen und anhand dessen zu entscheiden, hinter welchen vielleicht relevante Informationen stehen. Da geht nicht einmal, wenn ich diese Headlines vorher nach Schlagworten filtern lasse. Es geht nicht. Es ist zu viel. Und das ist auch völlig ok so. Es ist nicht schlimm, wenn ich etwas "verpasse", das potentiell wichtig und relevant für mich ist. Es kommt mit hoher Sicherheit wieder - heute oder morgen oder übermorgen und vermutlich mindestens 10 Mal :)
Es stört mich deshalb überhaupt nicht, wenn einer der Menschen (oder Robots) denen ich folge, oder mit denen ich auf Facebook "befreundet" sind, zu 95% Teste absondern, die mich nicht interessieren. Nur, wenn die Quote 100% erreicht, lösche ich die Verbindung. Und ich meine das nicht mal böse. Was mich allerdings immer wieder begeistert, sind Leute, die einen dann auch sofort un-followen.
Muss das jeder andere genau so sehen? Auf keinen Fall! Ich denke aber, dass diejenigen, die das "Ignorieren im großen Maßstab" nicht lernen können oder wollen, die Vorteile von Social-Media-Plattformen nie ganz ausschöpfen werden können - oder unter dauerhaftem Stress leiden, vielleicht etwas wichtiges zu verpassen. Spaß kann das nicht machen ... Deshalb: locker bleiben!
Posted via email from _notizen
Recent Comments